Aufschlag Ukraine

Was braucht es im Winter? Nagelneue Epik oder: den Beachvolleyballroman

„Verflucht!“, dachte Carlo und kratzte sich an der schweißübersäten Stirn. Dann nahm er die Ray Ban ab und blickte durch das Netz. Neben ihm nestelte Kim an ihren gelben Shorts. Carlo schaute noch immer dem Ball hinterher, der längst über das Fangnetz und in die Straßenschlucht geflogen war. Ronnys Blick ging ebenfalls ins Leere, und seine Partnerin Elsbeth stand ein wenig verloren herum. Carlo sagte nichts. Die ganze Situation schien ihm fast sinnbildlich zu sein. Kim hob den rechten Arm und verabschiedete sich. Die Sirene ertönte. Die Mittagspause war also ohnehin zu Ende, das Spiel aus.

Das achtzehnstöckige Hochhaus der Connaisseur Company glänzte quecksilbrig in der hochstehenden Sonne. Die Topfpalmen raschelten leise im trockenen Wind. Carlo schlenderte lässig zur Bank am Rande des Beachvolleyballfeldes, das vor kurzem auf dem Dach des Firmensitzes angelegt worden war. Er griff die Energydrinkflasche und machte sich auf. Seine Beachvolleyballkameraden waren bereits im Aufzug verschwunden. Währenddessen öffnete sich das Rollgatter an der Rückseite des Gebäudes. Die steile Abfahrt in den Keller war gesäumt von Laserlichtschranken und fotooptischen Abtastern. Grüne Blitze zuckten durch das schummrige Licht, rote Punkte flitzten über die gekalkten Wände. Ein ukrainischer Lieferwagen mit britischem Kennzeichen und sichtverblendeten Fenstern rollte in den Keller, das Rollgatter surrte nach unten.

Dr. Hals legte das Klemmbrett auf ein metallenes Pult, gab Ziffern in den Laptop ein, schloss ihn und wies den Fahrer des Lieferwagens durch eine nur angedeutete Geste an, den Wagen vor einer schwarzen, mit Titanriegeln gesicherten Tür abzustellen, hinter der sich ein Labor verbarg.

Ronny laborierte seit Wochen an einer Prostataschwäche. Er strich sich mit der linken Hand durchs blonde, kurz geschnittene Haar, schlug noch einmal ab, zog den Reißverschluss hoch und atmete tief durch. „Also dann!“, murmelte er.

Kim, die Operatorin, hatte in aller Kürze alle notwendigen Vorbereitungen getroffen. Als sie ins Büro im siebten Stock zurückgekehrt war, hatte ihr ein Pentagramm auf dem Bildschirm ihres Computers schon signalisiert, dass Eile geboten war – dass, wie Dr. Hals zu sagen pflegte, „der Arsch kochte“. Jetzt jagte sie Code um Code ins Intranet. In solchen Augenblicken war keine Zeit zu verlieren. Kim hatte noch nicht einmal ihr Beachvolleyballhöschen gegen einen anständigen Rock tauschen können. Ronny lachte finster, als er durch die Tür ihres gemeinsamen Büros trat. „Aufschlag Ukraine, oder?“, geckerte er. „Abschlag getroffen?“, erwiderte Kim trocken.

Ein Stockwerk höher telefonierte Elsbeth. „Dr. Hals? Ja? Ja. Klar. Ja, Urin ist da. Verstanden.“ Carlo warf ihr einen Blick zu. Seine Stirn lag in Falten. Könnten Hemden sprechen, Carlos marineblaues Hemd hätte Bände gesprochen. Auch die mit gelben Dreiecken gespickte bordeauxrote Krawatte hing wie geistesabwesend über der Lederlehne seines Schreibtischstuhls. „Ich?“ – „Du“, sagte Elsbeth, „Ronny gibt dir Cover, Kim macht die Security.“ Carlo hob sein weißes Jackett auf, das neben dem Schreibtisch lag. „Schwer?“ – „Sehr schwer“, sagte Elsbeth. „Die Chipkarte, bitte.“ Carlo strich sein Jackett glatt und verließ das Büro.

Ein Stockwerk tiefer stiegen Kim und Ronny zu. Im Untergeschoss öffnete sich die Aufzugtür. Dr. Hals erwartete sie schon. „Haben Sie Kreide gefressen, Carlo?“, grinste Dr. Hals. „Das wird Ihnen auch nichts nützen. Die Ukraine hat geliefert. Volle Ladung. Schwer. Schööön schwer!“ Er bleckte die Zähne. „Jeder weiß, was zu tun ist. Jeder auf seine Position!“ – „Mist“, dachte Carlo, „aus dem Feierabendmatch wird wohl nichts.“

In der Coven Street nebenan lag ein Beachvolleyball zwischen verschmutzten Gemüsekisten. Niemand nahm Notiz von ihm. Nur ein Hund bellte ihn an.

JÜRGEN ROTH