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: Fußballkultur in Krieg und Frieden

Sturmangriff mit Ball

War es Krieg? War es Spiel? Oder war es eine Mischung aus beidem? „Was zählte“, schildert Sebastian Haffner in seiner „Geschichte eines Deutschen“ seine kindliche Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs, „war die Faszination des kriegerischen Spiels, in dem nach geheimnisvollen Regeln Gefangenenzahlen, Geländegewinne, eroberte Festungen und versenkte Schiffe ungefähr die Rolle spielten wie Torschüsse beim Fußball.“ Auch die deutschen Fußballfunktionäre versanken bei Kriegsbeginn in triefendes Pathos. „Jahraus, jahrein haben wir schon gekämpft, in den mehr als zwei Jahrzehnten deutscher Fußballgeschichte. Nun kommt der große, der wahre Kampf“, schrieb einer, ein anderer stellte kaum weniger kriegseuphorisch fest: „Durch den Sport wurdet Ihr für den Krieg erzogen.“

Auch auf der Insel gaben sich die Fußballer ziemlich patriotisch. Es bildete sich sogar ein reines Fußballbataillon. Zuweilen kickten die britischen Soldaten beim Sturmangriff Fußbälle vor sich her, um so den notwendigen Mumm für den mörderischen Spurt auf die feindliche Stellung zu erhalten. Damit beantworteten die Fußballspieler eine knifflige Frage. Wog der Nutzen schwerer, der aus dem Einsatz der „Sportskanonen“ zwecks Hebung der Moral an der Heimatfront erwuchs, oder doch Neid und Missgunst in der Bevölkerung aufgrund offenkundiger Privilegien der Fußballstars? Die Antwort damals war eindeutig: Sowohl in England als auch in Deutschland fiel der Spielbetrieb in den besten Ligen bald aus.

Dem Thema „Fußball und Krieg“ widmen die beiden Schweizer Historiker Fabian Brändle und Christian Koller in ihrer Kultur- und Sozialgeschichte des modernen Fußballs mit Recht ein eigenes Kapitel. Der Anspruch der Autoren ist es, die Ergebnisse der deutsch- und englischsprachigen Forschung zu überblicken, zugleich jedoch Lücken in der Fußballgeschichte Großbritanniens, Deutschlands, Österreichs und der Schweiz aufzuzeigen. Diesem Anspruch werden die Autoren mehr als gerecht. Jederzeit sind sie in der Lage, die zum Teil umfangreiche Literatur pointiert zu verdichten, zudem profitiert der historisch wie sportinteressierte Leser von einem Talent, das keineswegs allen Sporthistorikern eigen ist: Sie vermögen den häufig so trivial wirkenden Fußball und seine Akteure in den zuweilen komplizierten sozialgeschichtlichen Rahmen einzubetten. Außerdem sind sie exzellente Schreiber. Kurz: Alles an diesem Buch wirkt souverän, in Zukunft wird es mit Sicherheit als Standardwerk gehandelt werden.

Zumal auch die inhaltliche Struktur überlegt und logisch ist. Selbstverständlich beginnt das Buch mit den Ursprüngen des modernen Fußballs in England, schildert, wie dieser Sport zunächst in den elitären Public Schools heimisch wurde, in Eton, Harrow, Rugby und Cambridge. Das leuchtende Vorbild des früh industrialisierten Großbritanniens, seine wirtschaftliche, technische und militärische Überlegenheit im 19. Jahrhundert war schließlich auch für die globale Popularisierung dieser Sportart verantwortlich. Alle Welt eiferte dem Empire nach, auch in seinen sportlichen Freizeitvergnügen.

Abgesehen von den Anfängen geht das Buch indes nicht chronologisch vor, sondern verhandelt den weltweit populärsten Sport in großen Themenblöcke. „Fußball und Geld“ etwa beschreibt den Aufstieg der Sportart zu einer englischen Industrie (1888 gründete sich die erste Profiliga), die enorme Verspätung des Berufsfußballs in Kontinentaleuropa sowie den heutigen globalen Entertainmentfußball; dokumentiert etwa durch die Versitzplatzung und veränderte Zuschauerstruktur. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit den Begriffen Nation und Klassenkampf.

Daneben gelingt den Autoren eine amüsante Typologisierung von Helden, Schurken, Narren und Außenseitern im Fußball. Einer dieser Helden ist George Best, der erste Popstar des Fußballs, der in den 60er-Jahren bei Manchester United spielte. Er taucht auf im Abschnitt über „Fußball und Geschlecht“, der sich nicht allein dem Frauenfußball, sondern auch Bildern von Männlichkeit und „letzten Männerreservaten“ widmet. ERIK EGGERS

Fabian Brändle/Christian Koller: „Goooal! Sozial- und Kulturgeschichte des modernen Fußballs“. Orell Füssli, Zürich 2002, 286 Seiten, 29,50 €