berliner szenen Das entwendete Buch

Makuliert

Mixwetter, ein Mix von Sonne und Regen. Schlimme Formulierungen, deren Gebrauch ins Herz der Finsternis führt. Eines Freitags saß ich nach getaner Arbeit vor meinem Lieblingscafé, las Zeitung und notierte. Am Morgen hatte ich mir „Das goldene Notizbuch“ von Doris Lessing bestellt. Es tröpfelte, dann regnete es, dann wurde es sehr warm, weil die Sonne herauskam. Ich zog meine Jacke an und wieder aus, in der Jackeninnentasche steckte mein Notizbuch. Nicht golden, sondern klein und blau, ein Oktavheft aus dem Hause Herlitz. Deutsche Industrie-Norm A6.

Die Sonne gab ihr Bestes, ich spazierte durch den Kiez, vom Heinrichplatz bis zur Admiralbrücke. Da muss es passiert sein: Mein Notizbuch verabschiedete sich ins Nichts. Jetzt ist es weg, verschwunden, vom Alltag verschluckt, verlustig. Ich begann mit Freunden über Poes „Der entwendete Brief“ zu philosophieren, hörte mir alle möglichen dummen Ratschläge an, wurde mit Voodoozauber und psychologischen Analysen (Neubeginn!) vertröstet, war aber nur unglücklich und verstört darüber, dass niemand mein Notizbuch fand und es mir zurückzugeben gedachte. Dabei stand die Adresse vorne drauf. Ich klapperte alle Orte und Lokale ab, die ich in den letzten Tagen mit ihm besucht hatte. Im Bateau Ivre hielt man gleich zwei Notizbücher hoch, keins davon war meins, in den anderen Bars war Fehlanzeige.

Gestern nun kam ein Brief. Ich sollte was abholen, bei Pin. Eine letzte Hoffnung befiel mich, aber es war das falsche Notizbuch, nämlich das von Frau Lessing. Antiquarisch übrigens, makuliert aus den Beständen der Stadtbücherei Spandau, ein Schmöker mit dem Buchrückenaufkleber „EMANZIPATION“. RENÉ HAMANN