Zweifelhafte Vergleiche bei Reaktoren

Angesichts diverser Störfälle stehen deutsche Atommeiler oft nicht beser da als osteuropäische AKW

Dort „gravierend“, hier aber „von keinerlei sicherheitstechnischer Bedeutung“

BERLIN taz ■ Fünf Störfälle gab es im Jahr 2002 im fränkischen AKW Grafenrheinfeld, gaben die Betreiber kürzlich in ihrer Jahresbilanz bekannt. Vier davon waren mehr oder weniger harmlos, aber der fünfte regt zum Nachdenken über die Bewertung von Stöfällen hierzulande und im Ausland an.

Rückblende: Im Februar des Jahres 2002 gab es wieder mal Kinderkrankheiten im tschechischen Reaktor Temelín nahe der bayrischen Grenze: Nach einem störungsbedingten Turbinenverschluss musste die Nachzerfallswärme nach Schnellabschaltung des Reaktors über den (normalerweise) nicht radioaktiven Sekundärkreis respektive über dort angebrachte Dampfventile in die Atmosphäre abgeblasen werden. Eines dieser Ventile schloss nicht zeitgerecht – unschön, aber innerhalb der Auslegung beherrschbar. Im bayrischen Umweltministerium war daraufhin von „gravierend“ und „nicht verantwortbar“ die Rede.

Einige Monate danach: Durch eine Verkettung von Pannen tritt in Grafenrheinfeld, einer modernen Konvoi-Anlage der Firma Siemens, ein Totalausfall aller Stränge der externen Stromversorgung ein. Der Meiler musste unverzüglich runtergefahren werden – Notstrom-Fall. Auch hier war – um eine Nachzerfalls-Kernschmelze zu vermeiden – ein schnellstmögliches Dampf-Abblasen in die Umgebung von Nöten. Wohlgemerkt mit der zusätzlichen Komplikation, dass der Betriebsstrom fehlte. Zur Gewährleistung der Funktionen mussten vier Dieselmotor-Stromgeneratoren automatisch starten. Störfall-Kommentar in derselben bayrischen Umweltzentrale: „Keinerlei sicherheitstechnische Bedeutung“.

Überhaupt ist auch sonst erstaunlich, mit welch unterschiedlichen Ellen Temelín und deutsche Reaktoren selbst von Expertengremien gemessen werden. So bemängelte die Kölner GRS nachdrücklich die „mangelhafte Separation von Frischdampf- und Speisewasser-Leitungen“ in Temelín: Beim Bruch einer dieser Leitungen könnten durch hochenergetische Wasserstrahl-Kräfte auch die anderen in Mitleidenschaft gezogen werden.

Zu vermelden ist in dieser Hinsicht für deutsche Anlagen, dass mindestens Biblis A und B sowie Neckar 1 und Unterweser zwar eine Separation zwischen Frischdampf- und Speisewasserleitungen aufweisen, diese aber jeweils untereinander in keinster Weise separiert sind. In Obrigheim wiederum ist diese Separation schlechterdings überhaupt nicht existent, bei den heiklen Krümmungen vor der Contianment-Durchführung sind sämtliche Leitungen innerhalb von circa vier Quadratmetern angeordnet. Gleichwohl attestiert die GRS dem KWO einen „hohen Sicherheitsstandard“.

Zu etwas anderen Schlüssen freilich gelangte das Österreichische Ökoinstitut in einem kürzlichen Rating: Zwei Drittel aller deutschen AKW sind dort hinter Temelín klassiert, Obrigheim zählt zusammen mit Brunsbüttel zu den gefährlichsten West-Meilern überhaupt.

Auch ansonsten scheint beim deutschen Atompark erheblich Sand im Getriebe zu stecken. Stade an der Elbe vermeldete unlängst die brandbedingte Lahmlegung eines Viertels aller Notkühlsysteme.

Weniger spektakulär, aber aufgrund des über weit längere Dauer bestehenden Fehlzustandes umso problematischer eine Information vom derzeit ohnehin wegen der Erforschungen einer Wasserstoffexplosion noch stillstehenden AKW Brunsbüttel: Wegen Diskrepanzen in der Steuerlogik hätten Einzelstränge des Notkühlsystems im Anforderungsfall nicht ordnungsgemäß funktioniert. Angesichts der Tatsache, dass sich die Explosion vom Dezember 2001 in diesem Reaktor um Haaresbreite zu einem Notkühlfall auswuchs, sind die Konsequenzen dieser Konstellation behördlicherseits entweder dilettantisch verkannt oder unverantwortlich vertuscht worden. FRANK PAULI