Unterm unsichtbaren Walmdach

Trotz trügerischer Bauschilder und der offenbar unvermeidlichen Verblendziegel bietet das „Akademische Viertel“ architekturpreisfähige Bausubstanz – alles noch zu haben für einen Schnäppchenpreis von 2.000 Euro pro Quadratmeter. Eine ästhetische Analyse als Teil 3 der Reihe „BDA-Preisträger 2002“

„Wohnen zwischen Bürgerpark und Wümmewiesen“, prangt es von dem schon etwas betagten Bauschild am Rande des „Akademischen Viertels“, gebaut von den Bremer Architekten Gert Schulze und Partner. Als grobe Lagebeschreibung mag das durchgehen. Doch wer glaubt, der Bürgerpark läge hier vor der Haustür, wird bald feststellen, dass schon zur nächst gelegenen Ecke des Stadtwaldes gut zwei Kilometer zurückzulegen sind.

Auch das Schaubild des Bauobjektes auf dem Schild lädt zu Missverständnissen ein. Aus der Vogelschau ist ein kompaktes Gebäude zu sehen, das an ein etwas überdimensioniertes Doppelhaus mit zwei Seitenflügeln erinnert. Über allem thront ein solides Walmdach. Erst beim zweiten oder dritten Blick lässt sich erahnen, dass die Abbildung einen Ausschnitt aus der langgestreckten dreigliedrigen Wohnanlage zur Rechten darstellt, die über rund 150 Meter die Mary-Astell-Straße begleitet.

Der Eindruck aus der Straßenperspektive ist ein völlig anderer als die Anmutung des Bauschildes: Man findet keine Stadtvilla, wohl aber eine moderne Wohnanlage vor. Von dem ausladenden Walmdach ist von unten nur noch eine scharfkantige, papierdünn wirkende Fläche zu erkennen, die weit auskragend die Freisitze des zurückspringenden dritten Obergeschosses beschirmt: ein Flachdach, würde man vermuten. Auch die gesamte Gliederung der Baukörper gibt sich entschieden modern. Das zeigt sich in den lebhaften kubischen Vor- und Rücksprüngen des Baukörpers und im Horizontalismus der Fensterlinien und Brüstungen.

Wie lässt sich die Doppelcodierung aus modernen und traditionellen Zeichen erklären? Wohnen sei auch in der modernen Welt immer noch eine der konservativsten Lebensäußerungen, heißt es. Andererseits sind nach der gehemmten Kleinteiligkeit der Postmoderne wieder entschieden moderne Architekturformen gefragt. Das demonstrieren die ab Mitte der neunziger Jahre in der unmittelbaren Nachbarschaft entstandenen Bauten der Universität und des Technologieparks. Doch diese Moderne ist wiederum durch einen seit Ende der achtziger Jahre bestehenden Masterplan auf ein traditionelles städtebauliches Schema straßenbegleitender Bebauung festgelegt. So schaut man von den meisten Balkonen im Akademischen Viertel in eine Korridorstraße. Der Blick fällt auf die Bürogebäude der anderen Straßenseite. Abstandsgrün und Alleebäume sollen die Härte der steinernen Konfrontation etwas abmildern.

Das Bild einer traditionellen europäischen Stadt, das hier erzeugt wird, findet jedoch kaum eine Entsprechung in der Infrastruktur. Außer einem Bäcker gibt es nicht viel in der nahe gelegenen Ladenzeile. Kann das Akademische Viertel einen Schritt zur Belebung des Technologieparks leisten? Es ist zu befürchten, dass für eine echte Durchdringung von Wohnen und Arbeiten, die ja im Umfeld der Uni durchaus möglich wäre, noch die richtigen Umsetzungsstrategien fehlen.

Unabhängig von der Offenheit der städtebaulichen Situation ist die Anlage in der Grundrissgestaltung und baulichen Detaillierung von ausgezeichneter Qualität – was für die BDA-Preis-Juroren schließlich das entscheidende Kriterium zur Preisvergabe war. Die Treppenhäuser, die zu den drei Wohnungen pro Etage führen, sind geräumig. Neben Verblendziegeln, die sich bei Bremer Architekten offenbar nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen, sorgen im äußeren Erscheinungsbild helle Holzverkleidungen für einen belebenden Kontrast. Bei den meisten Grundrissen ist die Küche im Zentrum der Wohnung platziert, bei den kleinsten Wohnungen sogar als frei stehender Block.

Das Größenangebot der Eigentumswohnungen ist weit gefächert: von 50 bis 150 Quadratmetern. Der Quadratmeterpreis liegt bei 2.000 Euro. Noch sind nicht alle verkauft. Es werden aber im nördlichen Anschluss bereits die Vorbereitungen für eine weitere Baustufe getroffen. Deshalb steht dort auch noch immer das Bauschild mit dem missverständlichen Schaubild.

Eberhard Syring

Eine Ausstellung über Sieger und nicht BDA-prämierte Bauwerke eröffnet am Sonntag um 11 Uhr in der Unteren Rathaushalle (bis 24.1. tägl. 11-18 Uhr)