Kühle Köpfe gegen Sarrazin

Die Sperrung der Bezirkskonten in Marzahn-Hellersdorf betrifft auch Projekte für Russlanddeutsche. Nun formiert sich erster Widerstand. Rund 120 Betroffene trafen sich, um den Protest zu organisieren

von HELMUT HÖGE

In Marzahn-Hellersdorf formiert sich der Protest gegen die Sperrung der Bezirkskonten, die Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) vorige Woche verfügt hatte. Am Montag trafen sich im Marzahner Jugendclub „Anna Landsberger“ am Prötzeler Ring etwa 120 Betroffene und diskutierten erste Kampfmaßnahmen wie Unterschriftenaktionen und Flugblätter. Viele der Anwesenden bezeichneten das Vorgehen der Finanzverwaltung als „Katastrophe“ und stimmten dem Bezirksbürgermeister Uwe Klett zu, der in einem Zeitungsbericht bereits die Furcht vor einem „Zusammenbrechen der gesamten sozialen Infrastruktur“ in Marzahn-Hellersdorf geäußert hatte.

Die Sperrung gilt für alle Konten, auf denen Geld für die so genannten freiwilligen sozialen Leistungen der Kommune lagern. Alle Zahlungen von diesen Konten aus müssen künftig erst durch die Finanzverwaltung genehmigt werden. Es ist das erste Mal in der Berliner Geschichte, dass sich ein Senator auf diese Weise direkt in bezirkliche Belange einmischt und damit dessen Verwaltung quasi entmachtet.

Davon betroffen sind vor allem soziale Projekte – für psychisch Kranke, Straffällige, Alte, Kinder, Jugendliche und Russlanddeutsche –, die einen freien Träger haben. Und das sind in dem Neubau-Bezirk Marzahn-Hellersdorf besonders viele. Die Empörung ist entsprechend groß. Durch die Kontensperrung sind etwa 200 Arbeitsplätze in rund 50 Projekten gefährdet.

Dennoch verlief die Diskussion im „Anna Landsberger“ sehr ruhig und sachlich: „Wahrscheinlich, weil die meisten sich zuvor schon in ihren Projekten genügend über die Kontensperrung aufgeregt hatten“, wie Jeanette Köber vom Kinder- und Jugendhaus Marzahn am Glambecker Ring vermutete. Neben der Mobilisierung der betroffenen Klientel durch Unterschriftenaktionen wurden auch juristische Schritte diskutiert. Der Jugendhilfeausschuss des Bezirks erwägt bereits eine Klage, flankiert von der Jugendstadträtin und der Jugendamtsleiterin.

„Wir müssen nun erst einmal darüber reden, ob wir wirklich schließen werden, wahrscheinlich muss das alles ehrenamtlich weiterlaufen“, sagte Köber im Anschluss an die Diskussion. „Was wir da in acht Jahren aufgebaut haben, das können wir doch jetzt nicht einfach in zwei Tagen weggeben.“ Am Glambecker Ring gibt es mehrere freie Träger unter einem Dach: u. a. den Meridian e. V. und den Dachverband MiM e. V. (Mädchen in Marzahn). Ihrer vorwiegend russlanddeutschen Klientel bieten sie hier neben einer Reihe von Beratungsleistungen in Konflikt- und Sozialfällen auch Unterstützung bei Staatsangehörigkeits- und Berufsfindungsproblemen an, außerdem werden Feste mit kulturellem Programm sowie Sprach- und Konversationskurse veranstaltet. Allein für die neunköpfige Mädchengruppe, die von Olga Steigerwald, einer Sportlehrerin aus Kasachstan, betreut wird, gibt es eine „Geschichtswerkstatt“, in der man sich mit der Historie der Russlanddeutschen unter besonderer Berücksichtigung der eigenen Familien beschäftigt, und ein „Frauenidentitätsprojekt“, das derzeit in einer Ausstellung von Bildern der Fotografin Mona Filz gipfelt. Ferner einen „Showtanzkurs“, den der aus Nowosibirsk stammende Choreograph Anatol Wendler leitet. Die Tanzgruppe nennt sich „Swentana“ und ist bereits über 100 Mal öffentlich aufgetreten – meistens auf Straßenfesten und Weihnachtspartys. Die Mädchen schneidern ihre Kostüme selber, die Musik – Modern Jazz, Medleys und Folk – stellt ihr Choreograph und Tanzlehrer zusammen. All dieses Engagement ist nun gefährdet.

Marzahn-Hellersdorf ist ein sehr kinderreicher Bezirk, zudem von hoher Arbeitslosigkeit (17,7 Prozent offiziell) betroffen und es leben dort über 30.000 Russlanddeutsche, die mit einer Reihe von speziellen Problemen zu kämpfen haben. Das Kinder- und Jugendhaus Marzahn ist inzwischen ein „Anlaufpunkt“ für ganze Spätaussiedler-Familien geworden. Bei den Mädchen, zwischen 15 und 17, geht es darum, „ihnen Räume zu geben, damit sie für sich Möglichkeiten finden, um ihre Interessen durchzusetzen“, erklärt Olga Linker. In der Tanzgruppe „Swentana“ handelt es sich dabei namentlich um Olga Steigerwald, Julia Sutser, Irina Wendler, Xenia Schmidt, Olga Häger, Marina Linker, Aljona Litau, Valerie Galinger und Lena Herbel. Sie kommen fast alle aus Kasachstan und gehen in Marzahn aufs Gymnasium. Irina Wendler tanzt daneben noch im Westberliner Club „Blau-Weiß-Silber“ mit und moderiert einmal im Jahr im „Kosmos“-Kino eine Jugendweiheveranstaltung.