Vor der Salonfähigkeit

Subversiver Metal in Indien oder China und Joy Division ganz authentisch: Das Eiszeit Kino zeigt aus- gewählte, durchweg gelungene Dokumentationen des Hamburger „Unerhört!“-Musikfilmfestivals

„Wir fanden: Ohne Patronengürtel sehen wir blöd aus!“

VON JENNI ZYLKA

„Überall waren immer diese Plattencover, auf denen die Bands coole Patronengürtel als Schmuck trugen“, erzählt Max Cavalera, Gründungsmitglied und ehemaliger Sänger von Brasiliens bekanntester Metalband Sepultura. „Wir fanden: Ohne Patronengürtel sehen wir blöd aus! Wir brauchen unbedingt Patronengürtel!“ Aber weil man die eben nicht so einfach bekommt, klebten die brasilianischen Mähnenträger am Anfang ihrer Karriere selber Gürtelattrappen aus Batterien zusammen. Sah von weitem anscheinend täuschend echt aus, jedenfalls in Brasilien.

Für die Dokumentation „Global Metal“ ist der kanadische Anthropologe und Thrasher Sam Dunn mit seinem Kameramann in Länder gereist, in denen Metal zensiert, verboten, weitgehend unbekannt oder als schwerstens subversiv eingeschätzt war und ist. Die Leidenschaft der größtenteils männlichen Fans und Bandmitglieder ist umso kochender: In Indien, dessen Metalfans schicke Saronröcke zu ihren bedruckten T-Shirts umwickeln und den Filmemacher nach getaner Arbeit mit spirituell aufgeladenen Glücksketten behängen, sprechen Musiker freundlich lächelnd von den Welten, die sich zwischen der verachteten Bollywood-Musik und Metal auftun: „We tink people wo arr listening to Bollywood are stupid!“ Sie erzählen von einem Leben, in dem selbst Ehen von den Eltern arrangiert und hinduistisch abgesegnet werden, und wie sehr Metal für sie ein Gegenentwurf zu diesen Regeln bedeutet.

Auch in China, dessen Metalfans die Musik größtenteils in den 80ern durch eine Band namens Ting Dynasty Productions kennenlernten – natürlich war an Auftritte von westlichen Bands nicht mal im Traum zu denken –, sind Musik und Szene stark politisch aufgeladen und unterscheiden sich extrem von den westlichen Metalszenen, die in Ausmaß und Ausläufern bis hin zum salon- und MTV-fähigen Hardrock teilweise eher niedlich und anarchronistisch wirken. Der Sänger von Chinas bekanntester Metalband, der beim Interview mit dem Filmemacher vor der spektakulären Kulisse der chinesischen Mauer lümmelt und von den Gemeinsamkeiten zwischen den Metalmähnen und der Tradition der chinesischen Kung-Fu-Frisuren redet, ist ein in den USA aufgewachsener Chinese, der, wenn man Dunn glaubt, die Musik eigenhändig nach China importiert und dort neu interpretiert hat.

Dunn hat in Japan Metalfans getroffen, die, nachdem sie ihr „Meetaaalll!!!“ inklusive Mosh in die Kamera geröhrt haben, verschämt hinter vorgehaltener Hand kichern, in Israel hat er eine antisemitische Metalband besucht – auch in den USA und Europa werden der Musikrichtung ab und an Nazisymbolik und fragwürdige Inhalte zur Last gelegt. Doch Dunn ist integer und studiert genug, um seinen Film selbst durch diese Themen zu führen – es ist bereits seine zweite sehr gelungene Dokumentation zu seiner Lieblingsmusik.

Ausgewählte Filme des Hamburger „Unerhört!“-Musikfilmfestival werden ab heute im Eiszeit Kino gezeigt. Neben „Global Metal“ läuft ein Portrait über Mel Cheren, den „Godfather of Disco“ und Chef von „Westend Records“, der nicht nur die 12“ erfunden und damit die Dancefloors diverser New Yorker Clubs zum Schwitzen gebracht hat, sondern auch ein HIV/Aids-Aktivist der ersten Stunde ist.

„Queens of Sound“ zeigt, wie jamaikanische Dancehall- und Reggae-Musikerinnen ihren Stil auf der wohl homophobsten und sexistischsten Insel der Welt durchziehen: Neben den hinreißenden Genre-Größen Lady Saw, Macka Diamond und Sasha hat die österreichische Regisseurin wunderschöne Patois-O-Töne einer jamaikanischen Literaturprofessorin, einer Produzentin und einer Videoclipregisseurin eingesammelt. Auf den Punkt bringt es allerdings die beleibte, in winzigem Strickbikini und auf mörderischen Highheels ihre Riddims und Rhymes feuernde Lady Paula, die auf schwere Männer steht: „I want a man like a tanker / cos he’s a banker / Fat man need loving too…“

Eine neue, stimmige, umfassende und ungewöhnlich bebilderte Joy-Division-Doku von Grant Gee, für die der Filmemacher die Videoarchive der Band einsehen durfte, ist eine weitere Berlinpremiere des Festivals und lässt den Spielfilm zum Thema fast ein wenig alt aussehen. Zusammen mit den Werken, die in Andreas Döhlers gediegener und rauchfreundlicher White-Trash-Musikfilmlocation unermüdlich aus den Archiven gekramt oder neu gezeigt werden – am 21. läuft als Premiere das Punkfilmprojekt „Jugend 80“ von Addy Fahrenhorst, weiterhin Filme über Rriot Grrls, die Band X, The Who, den außerirdischen Jazzorchesterleader Sun Ra oder Krautrock –, hat sich Berlin tatsächlich als amtlicher und beeindruckender Musikfilmstandort etabliert. Hier rockt es schlichtweg.

„Unerhört!“-Musikfilmfestival im Eiszeit Kino vom 19.–21. 9., www.eiszeit-kino.de