Wenn Omar stirbt, leiden die Mädchen

Kindertheater in Hebron: Wie eine palästinensische Schauspielertruppe mit dem Besatzungsalltag umgeht

HEBRON taz ■ Omar ist mit seinen Freunden auf dem Weg zur Schule, als ihm eine Gewehrkugel die Brust zerreißt. Sanitäter sind sofort zur Stelle, der schwer verletzte Omar schwebt aber bereits zwischen Leben und Tod. Das passiert in schneller Abfolge und wird deshalb auch so erzählt.

Denn glücklicherweise ist alles nur gespielt. Die Zuschauerinnen in der Aula einer Mädchenschule in Hebron leiden aber trotzdem mit. Die Gewalt ist direkt. Blut fließt. Es ist laut, chaotisch und wirklichkeitsnah auf der schwarz verhangenen Bühne. Verharmlosungen sind nicht zulässig. Erst vor einigen Wochen wurde hier ein palästinensischer Schuljunge auf seinem Weg nach Hause von einem israelischen Scharfschützen getötet, ein Dreijähriger am Fenster stehend erschossen.

Indessen erlebt der verwundete Bühnen-Omar die Umwelt in seiner Agonie teils bewusst, teils im Wahn. Er trifft seinen besten Freund und seine Familie noch einmal. Außerdem begegnet er einem Fantasiewesen: Abu Sultan, der Omars so jäh beendete Zukunftsträume verkörpert. Die Schauspieler lachen und weinen und bewegen ihr Publikum. Am Ende gibt’s großen Applaus.

Die Show ist damit aber noch nicht zu Ende. Die Akteure fragen die Mädchen, wie sie die verschiedenen Szenen und Charaktere verstanden haben. Besonders der schillernde Abu Sultan wird kontrovers diskutiert. Einige sehen in ihm die farbenfrohe Flucht des kleinen Omar aus seinem tristen Leben. Für andere verkörpert er das Schicksal.

Das Ensemble und die Lehrerin sind zufrieden. „Es geht uns nicht darum, alles genau zu definieren“, erklärt Raed Schujuchi, im Stück Omars Vater, Großvater, Stiefmutter und Krankenwagenfahrer. „Wir wollen das Publikum zur Diskussion anregen, die Kinder sollen ihre Fantasie spielen lassen. Was bietet Hebron denn schon für Kinder? Die paar Räumlichkeiten und Spielplätze, die hier einmal waren, sind zum Großteil zerstört.“

Seit Ende April 2002 steht Israels Armee wieder in Hebron. Seit fünf Jahren wird der Großteil der Stadt zwar von den Palästinensern verwaltet, das unmittelbare Stadtzentrum hat Israel aber behalten. Dort wohnen 450 extremistische jüdische Siedler unter Militärschutz. Die 25.000 palästinensischen Bewohner des Zentrums sind den Übergriffen der Siedler und Soldaten ausgeliefert und leben seit zwei Jahren meist unter Ausgangssperre.

Schujuchi und seine Kollegen sind die Hebroner Abteilung einer Theatergruppe mit Teams in mehreren palästinensischen Städten. „Ursprünglich sind wir nicht nur in Hebron aufgetreten“, sagt er. „Aber wegen der Absperrungen und häufigen Ausgangssperren können wir schon froh sein, wenn wir hier Aufführungen hinkriegen.“ Vierzig Shows mit über 6.000 Zuschauern haben sie in diesem Jahr in Hebron gespielt, hauptsächlich vor jungem Publikum. Abends sind Auftritte wegen der „Lage“ nicht möglich. „Dabei würden wir sehr gerne vor Erwachsenen spielen“, klagt Schujuchi. „Kinder verstehen komplexere Handlungen und Parabeln ja nicht.“

Theater ist neu für Hebroniten, meint er. „Die meisten kennen nur Kabarett aus dem Fernsehen.“

Vor etwa einem Jahr dachten sie ans Aufhören, als ein Mitglied ihres Teams während der Wiederbesetzung der Stadt Tulkarem von Soldaten erschossen wurde. Und als sie sich wieder gefasst hatten, war die Bewegungsfreiheit noch mehr als sonst eingeschränkt. „Einmal wollten wir in den Gaza-Streifen“, erklärt Schujuchi. Die etwa einstündige Autofahrt ist Palästinensern verboten. Sie müssen über Jordanien und Ägypten in den zweiten Teil der palästinensischen Heimat reisen. „Dafür haben wir sechs Tage gebraucht. Erst wollten uns die Ägypter einsperren, dann die Israelis.“

Für die ganzen Strapazen verdienen sie umgerechnet 450 Euro im Monat. Das Geld kommt von internationalen Organisationen. Die Auftritte der Truppe sind frei. Sonst würde wohl niemand kommen können.

PETER SCHÄFER