Düsteres Geheimnis

Uli Hannemann, Liebling der Massen, Freund Hannovers und aller lebenden Schwäne am Landwehrkanal, der Platten und der Brücken, der Bratwurst und des Bieres

Nicht jeder weiß, dass Berlin mehr Brücken als Venedig besitzt – daher auch „Amsterdam des Ostens“ oder „Stockholm für Arme“. Die Brücken sind natürlich nicht nur einfach so aus Jux und Dollerei in die Gegend gestapelt worden, es gibt vielmehr knallharte Gründe: Ein weit verzweigtes Netz aus Kanälen, die zu tief sind, um einfach hindurchzuwaten oder mit dem Auto durchzufahren.

So grillen wir im Dreiländereck (Kreuzberg, Neukölln, Treptow) an drei Kanälen gleichzeitig. Das Auge zappt sich quasi querbeet durch die Kanäle: Auf der einen Seite der Landwehrkanal, auf der anderen Seite der originellerweise gleichnamige Landwehrkanal, und weiter hinten geht der Neuköllner Schifffahrtskanal ab und fließt geheimnisvoll unter einer Art Märchenbrücke durch, irgendwohin ins unergründliche Nirgendwo. Gegen Abend treten Schwäne zu uns ans Ufer und erbitten schweigend Brot, Wurst und Bier. Wir geben nichts, tut uns leid, Schwäne, und tschüs. Als die Dämmerung einbricht und sich leichter Abendnebel unheimlich auf den Kanal legt, sehen wir die halbverhungerten Schwäne langsam durch die Märchenbrücke davontreiben. Es ist ein mächtiges Bild. Irgendwo dort muss der große Schwanenfriedhof sein, den sie aufsuchen, um in Ruhe zu sterben, wie man das ja auch von alten Elefanten kennt, die dann aber eher den Elefantenfriedhof aufsuchen, der weniger nass ist und dafür größer. Man könnte weinen vor Rührung. Ich mache mir ein Bier auf, nippe wehmütig daran, während ich ein totes Schwein auf den winzigen Grill wuchte.

Ein Mann hat einen kleinen batteriebetriebenen Plattenspieler dabei und legt jede Menge Singles auf. Wir lauschen alten Weisen. Dann geschieht etwas Schreckliches: Ein anderer Mann, der bis dahin eigentlich ganz bei Sinnen wirkte, beginnt im Höllenfieber zu fantasieren, er sei Fan von Hannover 96, und Hannover, der nach meinem Informationsstand weltweit einzige von Menschen bewohnte Kackhaufen, sei „die schönste Stadt der Welt“. Ich zittere am ganzen Leib. Ich glaube, er fängt nun sogar an, zu singen, zu schreien, „HANNOVER, HANNOVER, HANNOVER – DU TOLLE STADT DER WELPEN, DU BLINDARM ENGELLANDS…“ Ich sehe nur noch seinen Mund sich bewegen, eine verzerrte Fratze, Lippen wie Todesstreifen der Wurstindustrie.

Es ist längst dunkel geworden Ich sehe im Licht eines fahlen Drittelmondes die Schwäne auf dem wie von Geisterschleuse plötzlich rückwärts strömenden Kanal unter der Brücke hindurch zurückkommen. Der Hannovermann muss sie aus dem Totenreich aufgeschreckt haben, und nun kehren sie als Zombies wieder. Der Anblick ist schrecklich, aber irgendwo kann ich die Schwäne auch verstehen. Auf dem Plattenteller dreht sich auf einmal das Lied „Ich wähl CDU“. Schweigend blicken wir ins erloschene Feuer. Gott ist tot. Der Hannovermann lässt in mir einen uralten Traum wieder wach werden: Es ist heller Tag. Die Sonne scheint. In einer Badehose mit Leopardenmuster stehe ich, eine schwere Goldkette auf der gebräunten Brust, am Steuer eines Rennmotorboots und rase mitten durch eine dichte Schar von Schwänen. Die Federn fliegen. Es schneit im Sommer. Neben mir juchzt Frau Holle junior in einem Ritzenflitzer von Armani.

Am Ende bleiben Würste übrig. In derselben Nacht stirbt ein Getreidehamster an einer nie gekannten Altersschwäche.

ULI HANNEMANN