Junger Free Jazz

Er brachte dem Free Jazz die Zwölftonmusik bei: Alexander von Schlippenbach feiert heute im Radialsystem seinen 70. Geburtstag

VON TIM CASPAR BOEHME

So viel Alexander von Schlippenbach war schon lange nicht mehr. Zum heutigen Geburtstagskonzert für den Pianisten wird im Radialsystem so ziemlich alles aufgeboten, was man gemeinhin mit seinem Namen verbindet: Das Globe Unity Orchestra, das Alexander von Schlippenbach Trio, sogar ein Soloauftritt steht auf dem Programm. Für einen Pionier des europäischen Free Jazz ein durchaus würdiger Rahmen, seinen 70. Geburtstag zu feiern.

Der 1938 in Berlin geborene Pianist ist nicht nur ein eminent wichtiger Musiker, sondern auch ein großer Organisator. Für das Berliner Jazzfestival gründete er im Jahr 1966 das Globe Unity Orchestra. Das Orchester, zu Beginn ein Allstarensemble des sich formierenden europäischen Free Jazz mit Musikern wie Peter Brötzmann oder Albert Mangelsdorff, wurde rasch zum Aushängeschild für eine Tonkunst jenseits der Grenzen von sogenannter E- und U-Musik und trat unter anderem bei den Donaueschinger Tagen für Neue Musik auf. Vor zwei Jahren beging das inzwischen leicht verjüngte Ensemble seinen vierzigsten Geburtstag.

Die Allianz von „ernster“ zeitgenössischer Musik und Free Jazz ist bei von Schlippenbach kaum überraschend, hat er doch für einen Jazzmusiker eine eher unübliche Ausbildung: In Köln, dem Nachkriegszentrum für Neue Musik, studierte er bei dem Avantgarde-Komponisten Bernd Alois Zimmermann, dessen pluralistischer Stil sowohl serielle Techniken im Sinne der Zwölftontechnik als auch Jazz vereinbarte.

Parallel zu seinem Studium spielte von Schlippenbach in den Ensembles der Jazzmusiker Gunter Hampel und Manfred Schoof. Von Schlippenbach steht also für eine ganz besondere Ausprägung des europäischen Free Jazz, dessen Vertreter sich zu Beginn der Siebziger von ihren amerikanischen Vorbildern emanzipierten, indem sie sich auf Entwicklungen wie die Neue Musik besannen. Am Begriff „Free Jazz“ hielt von Schlippenbach gleichwohl bis heute fest. Von Schlippenbach hat über die Jahre eine Improvisationsform entwickelt, die auf einmalige Weise die von Arnold Schönberg entwickelte Kompositionstechnik der Zwölftonmusik in sein freies Spiel integriert. Das Improvisationsmaterial besteht aus Reihen von zwölf Tönen ohne herkömmlichen harmonischen Zusammenhang. Seine im vergangenen Jahr erschienenen zwei Soloalben mit „Twelve Tone Tales“ dokumentieren diese herausfordernde Spielweise, für die ähnliche Rechenleistungen nötig sind wie bei den Fugenimprovisationen Johann Sebastian Bachs.

Dass von Schlippenbach auch mit seinen anderen Projekten keine Gemütlichkeit aufkommen lässt, zeigt das Beispiel des 1970 mit dem Saxofonisten Evan Parker und dem Schlagzeuger Paul Lovens gegründeten Alexander von Schlippenbach Trios, eines der langlebigsten Ensembles im europäischen Jazz. Im Mai erschien mit „Gold Is Where You Find It“ ein Album, auf dem sich nachvollziehen lässt, wie kontinuierliches Aufeinander-Hören zu einer Form des gemeinsamen Improvisierens führen kann, frei und konzentriert, wie es sonst nur in komponierter Form möglich scheint. So trifft von Schlippenbachs Satz aus dem Jahr 1994 auch heute zu, wonach Free Jazz bedeute, „das Wissen um die Tradition wie auch die neuen, eigenen Errungenschaften gleichermaßen zu nutzen“.

In den Neunzigern war es etwas stiller geworden um den Pianisten. Vor drei Jahren dann hatte er ein großes Comeback mit dem Projekt „Monk’s Casino“, einer Einspielung des Gesamtwerks von Thelonious Monk, für die er jüngere Jazzmusiker wie Axel Dörner und Rudi Mahall rekrutierte, die auch im Globe Unity Orchestra mitspielen. Aktuell reiht sich bei ihm ein Konzert an das nächste, von Altersmüdigkeit kann keine Rede sein. Von Schlippenbach, der seit dem Jahr 1970 wieder in Berlin lebt, ist mit der Jazzpianistin Aki Takase verheiratet, mit der er auch im Duo arbeitet. Gelegentlich treten beide gemeinsam mit Sohn Vincent alias DJ Illvibe als Lok 03 auf. Mit dem 1988 gegründeten Berlin Contemporary Jazz Orchestra schließlich widmet sich von Schlippenbach den Werken zeitgenössischer Jazzkomponisten. Daneben gibt und gab es zahlreiche weitere Kollaborationen.

Zu den Verdiensten von Schlippenbachs zählt nicht zuletzt das unabhängige Berliner Plattenlabel Free Music Production (FMP), das er 1969 zusammen mit Musikern wie Brötzmann gründete. Das Label, in den ersten Jahren im Besitz des Musikerkollektivs, entwickelte sich rasch zu einer der zentralen Adressen des europäischen Free Jazz. Unter anderem erschien dort 1972 das legendäre erste Album des Alexander von Schlippenbach Trios, „Pakistani Pomade“. Seit FMP im Jahr 2004 seine Produktion eingestellt hat, erscheinen Wiederveröffentlichungen aus dem Katalog unter anderem bei den Labels Intakt Records und Jazzwerkstatt, die gemeinsam das heutige Konzert präsentieren. Noch eine – keinesfalls selbstverständliche – Kontinuität, über die man sich freuen kann.