: Mädchen sind Mobbingmeister
Schikanieren, schubsen, schlagen: Mobbing ist an allen Schulformen von der Hauptschule bis zum Gymnasium ein weit verbreitetes Phänomen. Lehrer und Eltern erkennen Mobbing oft zu spät. Präventionsprojekte sollen das ändern
VON JANET WEISHART
Er drohte Marie (Name geändert): „Wenn du mir morgen kein Geld bringst, schlagen ich zu!“ Das erzählt die Elfjährige und schaut zu Boden. Die Fünftklässlerin spricht ungern darüber, wie sie von einem Jungen aus ihrer Schule erpresst wurde. Erst musste sie ihre Schokoriegel abgeben, dann das Handy, zuletzt ihr Konfirmationsgeld. Da brach sie zusammen und wandte sich an die Schulsprechstunde „Offenes Ohr“. Das Projekt, das an der Valentin-Ickelsamer-Hauptschule im bayerischen Rothenburg entwickelt wurde, berät Jugendliche mit Schwierigkeiten. Marie wandte sich weinend an die Leiterin, Religionslehrerin Petra Tschunitsch.
„Mobbing ist in der Sprechstunde oft Gesprächsthema“, berichtet Tschunitsch. Auch Gerhard Kieffer kennt das Problem. Er ist seit 1972 Schulpsychologe an der Wilhelm-Löhe-Schule Nürnberg und bestätigt, dass „die Anzahl der Fälle zunimmt. An jeder Schule“. Eine Studie der Technischen Universität Dresden befragte bundesweit 20.000 Schüler – jeder Fünfte gab zu, mindestens einmal in der Woche schikaniert zu werden. In Berlin ergeht es laut dem Robert-Koch-Institut jedem dritten Schüler so. Gezieltes, systematisches und wiederholtes Schikanieren von Schwächeren durch Stärkere ist Mobbing. „Und ein Kind von fünfundzwanzig Kindern kann als ernstes Opfer bezeichnet werden“, sagt Mechthild Schäfer, Mobbingexpertin und Psychologin an der Münchner Ludwig-Maximilian-Universität.
Gemobbt wird laut der Dresdener Studie besonders in den 5. bis 9. Klassen. Der Anteil der Täter, die ein- oder zweimal drangsalieren, verdoppelt sich in dieser Zeit – von 25 Prozent pro Klasse auf die Hälfte. Kieffer sieht Ursachen im Schulwechsel nach der Grundschule: „Wenn neue Klassen zusammengesetzt werden, dauert es eine Weile, bis jeder seine Rolle gefunden hat. Viele Anführertypen wollen sich behaupten, weil sie nicht mehr die erste Geige spielen und mobben.“ Aber auch Leistungsdruck, etwa in Gymnasien, fördere Boshaftigkeiten.
Mobber wie Opfer entsprechen bestimmten Charakteren. Schulpsychologe Kieffer beschreibt die Opfer als „Kinder, die salopp gesagt etwas anders sind, schwach wirken, vielleicht auch Makel haben. Meist sind sie Außenseiter, die schon im Kindergarten litten. Ihren Eltern ist das Phänomen oft nicht neu.“ Täter hingegen haben oft mit ihren Leistungen Probleme oder bekommen von zu Hause viel Druck. „Sie sind in der Mehrzahl intelligent, sodass sich viele beim Mobben nicht erwischen lassen. Sie schicken andere vor“, erzählt der Fachmann. Mädchen sind genauso Opfer und Täter wie Jungen. Der Unterschied: „Jungen hauen, schubsen, schimpfen. Mädchen hingegen sind Mobbingspezialisten, Strategen, die gezielt Lügen und Gerüchte über Opfer verbreiten“, sagt Kieffer.
Und der Rest der Klasse? Aus Angst, selbst Opfer zu werden, halten Mitschüler sich heraus oder helfen Tätern sogar. Spätestens zu dem Zeitpunkt müssten die Lehrer eingreifen. Aber sie nehmen das häufig nicht ernst, stellen Mobbingexperten wie Kieffer und Tschunitsch. „Das wird schon wieder“, sei die typische Reaktion von Pädagogen. „Lehrer haben oft nicht den Blick für Mobbing. Zu viel Stress, keine Zeit“, sagt Tschunitsch. Fachleute fordern deshalb, Lehrer schon im Studium dafür zu schulen.
Doch auch Eltern brauchen Nachhilfe in Sachen Mobbing. Maries Mutter erfuhr erst von den Erpressungen, als ihr Kind zusammenbrach. Und die Eltern des Erpresserkindes nahmen ihren Jungen in Schutz. „Ganz typisch“, urteilt Schulpsychologe Kieffer. „Tätereltern wollen nicht wahrhaben, dass ihr sonst so liebes Kindes mobbt. Sie verteidigen es – aus Überzeugung oder Scham.“ Viele wachen erst auf, wenn die Polizei an die Tür klopft oder der kleine Liebling vor Gericht steht, wie im Fall Marie.
Einige Schulen setzen inzwischen gezielt auf Prävention von Mobbing. Die Valentin-Ickelsamer-Hauptschule in Rothenburg sensibilisiert Schüler zum Beispiel mit Rollenspielen für ihr Verhalten. „Wie es sich anfühlt, ganz unten zu sein, rüttelt selbst Täter wach“, berichtet Tschunitsch. Die Lehrer an der Schule lernen in pädagogischen Konferenzen dazu.
An der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg sind die Lehrer der fünften Klassen angehalten, die Jungen und Mädchen genau zu beobachten und Schwierigkeiten mit einem Sozialpädagogen zu besprechen. Hartnäckige Fälle werden auf Elternabenden thematisiert. Es gibt ein Schulschlichterprogramm, bei dem ältere Schüler jüngeren helfen.
Marie geht wieder wieder gern zur Schule. Ihr Peiniger wurde an eine andere Schule zwangsversetzt. Ein Schulverweis sollte jedoch das letzte Mittel im Kampf gegen Mobbing sein, sagen Fachleute.
Weitere Infos unter www.schueler-mobbing.de. Der Deutsche Kinderschutzbund berät zu Mobbing telefonisch, Kinder und Jugendliche: 08 00 – 1 11 03 33 (Mo.–Fr. 15– 19 Uhr), Eltern: 08 00 – 1 11 05 50 (Mo.–Mi. 9–11 Uhr, Di.–Do. 17–19 Uhr)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen