Aufmüpfiges Gemäuer

Heidnische Haine wurden zur Kirche verbaut und der Heilige Veit zog den Kürzeren - die Geschichte von „Unser Lieben Frauen“ steckt voller Machtpolitik

Die Bremer Innenstadtsteine haben schon einiges mitgemacht – zum Beispiel Eulenspiegels Steinaussaat, aus der kleine Nachwuchsnarren sprießen sollten. Besonders viel hat das Gemäuer von „Unser Lieben Frauen“ erlebt, die Kirche der – mit fast 1.000 Jahren – ältesten Bremer Gemeinde. Jetzt ist deren Geschichte umfassend dokumentiert.

Das Buch ist mehr als ein beliebiger Lückenschluss in der Bremensien-Literatur. Wegen der unmittelbaren Nähe zum Rathaus – und dem Antagonismus zum Dom – standen Kirche und Gemeinde durchgehend im Brennpunkt der machtpolitischen und ideologischen Auseinandersetzungen.

Das heutige Gebäude stammt im Wesentlichen von 1230. Kurz zuvor hatte die Jungfrau Maria den heiligen Veit als Patron beerbt. Der Ursprungsbau bestand aus Holz – was nicht nur technisch einfacher, sondern auch bedeutungsschwanger war: Das Material wurde durch Rodung der heidnischen „Heiligen Haine“ gewonnen. Die Umwidmung zu Marias Gunsten wiederum spiegelt die Emanzipation vom Dom, dessen Bischöfe stets Veit favorisiert hatten. Nun wurde ULF zur Amtskirche der selbstbewusster werdenden Ratsherren, die ihr Archiv lange im Nordturm lagerten.

Naheliegenderweise wurde Liebfrauen zum Zentrum der Reformation. Die setzte sich derart umfassend durch, dass die Erzbischöfe schon acht Jahre nach Luthers Thesenanschlag mutterseelenallein im Dom saßen – der Rat hatte kurzerhand verboten, die dortige Messe zu besuchen. Später wurde er sogar vernagelt und rottete (bis 1638) still vor sich hin.

Umso wichtiger war ULF – zumal sich hier schon immer das wirtschaftliche Leben konzentriert hatte. Die Buden rund um die Kirche mussten regelmäßig rotieren, um geschäftliche Chancengleichheit zu wahren. Selbst der Gemeindefriedhof diente im Mittelalter als Handels- und Versammlungsareal. Erst mit der Fertigstellung des Rathauses (1407) verlagerte sich das Treiben auf den heutigen Marktplatz.

Im 19. Jahrhundert war Liebfrauen ein Hort revolutionärer Bestrebungen: Ab 1848 predigte hier der radikaldemokratisch gesinnte Pastor Dulon, bis er vom Senat abgesetzt wurde und nach Helgoland auswanderte. 1933 zeigten sich große Teile der Gemeinde widerständig gegenüber den „Deutschen Christen“ und der Gleichschaltungspolitik des Landesbischofs Weidemann (der nach dem Krieg übrigens als Versicherungsvertreter arbeitete).

Reste der ursprünglichen Kirchengeschichte haben sich im „Beinkeller“ erhalten, Bremens ältestem begehbaren Raum: Er war Grablege und Versammlungsort von Bruderschaften. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde er schnöde zum Kohlenkeller umfunktioniert, heute ist er als St-Veits-Krypta wieder zugänglich. Henning Bleyl

Dietmar von Reeken: Unser Lieben Frauen (Edition Temmen), 285 Seiten