Verfassungsrichter stärken Patientenrechte

Kassen dürfen teure Medikamente nicht verweigern, nur weil sie für die spezielle Indikation nicht zugelassen sind

FREIBURG taz ■ Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechte von Patienten gegenüber Krankenkassen und Sozialgerichten gestärkt. Kranke seien besonders zu schützen, wenn von der verweigerten Finanzierung eines Medikaments „Lebensgefahr ausgehen kann“, heißt es in einem der taz vorliegenden, bisher unveröffentlichten Beschluss.

Konkret ging es um den Fall eines 47-jährigen Mannes, der an der seltenen Lungenkrankheit PPH („Lungenhochdruck“) leidet. Auf Verordnung eines Berliner Arztes erhält er das Medikament Ilomedin, das seine ständige Atemnot wirksam lindert, aber rund 1.000 Euro pro Tag kostet. Seine Kasse, die Bahn-BKK, weigerte sich, diese Kosten zu übernehmen, weil Ilomedin nicht für die Behandlung von Lungenhochdruck, sondern nur für Gefäßkrankheiten zugelassen sei.

Der Patient klagte, doch erhielt die Kasse zunächst im Juni vorigen Jahres beim Berliner Landessozialgericht (LSG) in einer Eilentscheidung Recht. Nach Ansicht der Richter gibt es keine Erfolgsaussichten für diese Form der Ilomedin-Therapie. Der Anwalt des Patienten, Klaus Goecke, fürchtete daraufhin um das Leben seines Mandanten und erhob Verfassungsbeschwerde.

Mit Erfolg. Karlsruhe forderte die Berliner Richter zu einer neuen Beurteilung des Falles auf. Sinngemäß erklärten sie: Wenn es um schwere Gefahren für Leib und Leben geht, sollte man bis zur Entscheidung in der Hauptsache besser kein allzu großes Risiko eingehen. Die Sozialgerichte könnten sonst zu „Herren über Leben und Tod“ werden, warnte der zuständige Verfassungsrichter Udo Steiner. In den nächsten Wochen wird nun das LSG Berlin erneut über den Fall entscheiden und die Bahn-BKK vermutlich zur vorläufigen Weiterzahlung des Medikaments verpflichten.

Spannend ist allerdings, wie der Streit in der Hauptsache ausgehen wird. Denn alle Beteiligten beziehen sich auf ein Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom letzten März. Dort hatten die obersten Sozialrichter erklärt, unter welchen Bedingungen die Kassen ein Medikament bezahlen müssen, das außerhalb seiner eigentlichen Zulassung („off label“) angewandt wird. Erstens muss eine schwere Krankheit vorliegen, zweitens darf keine andere Therapie verfügbar sein, drittens muss aufgrund von Forschungserkenntnissen Aussicht auf einen Behandlungserfolg bestehen.

Die BSG-Kriterien waren nötig geworden, weil Kassen unter dem Spardruck immer häufiger die Finanzierung von Off-Label-Therapien verweigerten. Geschickt stellten die Versicherungen dabei nicht das Kostenargument, sondern den Patientenschutz in den Vordergrund. Nebenwirkungen und Komplikationen könnten am besten vermieden werden, wenn Ärzte nur Medikamente verschreiben, die auch für die fragliche Anwendung getestet wurden.

Allerdings sehen Pharmafirmen gerade bei seltenen Krankheiten oft keinen wirtschaftlichen Anreiz, teure Tests durchzuführen, um die Zulassung eines Medikaments zu erweitern. Das BSG-Grundsatzurteil, das deshalb in Einzelfällen eine Kassenfinanzierung auch ohne Zulassung erlaubte, gilt heute als gelungener Kompromiss zwischen den Interessen von Kasse, Arzt und Patient.

Allerdings zeigt der Berliner Rechtsstreit, wie im Einzelfall um die eigentlich klaren BSG-Kriterien gefeilscht wird. Ist der Patient wirklich so krank, dass ihm nur eine intravenöse Ilomedin-Therapie helfen kann? Gibt es in Fachkreisen einen Konsens, dass diese Therapie überhaupt hilft? Sind auch wirksame Alternativpräparate auf dem Markt? Die Bahn-BKK beantwortet bisher alle Fragen anders als Patientenanwalt Goecke. (Az.: 1 BvR 1586/02) CHRISTIAN RATH