Hilfe, sie hat ein Kind!

Männer, die sich in eine Frau mit Kindern verlieben, erleben einen Familienstart von null auf hundert. Entsprechend groß ist die Schleudergefahr

von ÜSÉ MEYER

Zwei Wochen dauert der kalte Krieg zwischen Tim und Lea nun schon. In seine Wohnung setzt sie keinen Fuß mehr. Und ist er bei Lea zu Hause, fordert sie ihn kurzerhand zum Gehen auf. Tim ist 35, Grafiker und lebt in Berlin. Lea ist vier und die Tochter von Tims neuer Partnerin. Von Anfang an hat sich Tim gefragt, was passieren wird, wenn die kleine Lea ihn nicht akzeptiert. Heute, sagt er, würde er sie manchmal am liebsten auf den Mond schießen.

Junggesellen müssen künftig vermehrt damit rechnen, dass ihre neue Partnerin Kinder mit in die Beziehung bringt. Die Rechnung ist leicht gemacht: Im Jahr 2000 wurde in Deutschland mehr als jede dritte Ehe wieder geschieden – in Großstädten bereits jede zweite. Und bei jeder zweiten Scheidung ist mindestens ein unmündiges Kind betroffen. In acht von zehn Fällen bleiben die Kinder bei der Mutter. Es sind also meist Männer, die unverhofft in diese so genannten Teilfamilien hineinstolpern. Familienstatistiker in Deutschland schätzen den Anteil der Stieffamilien auf zehn bis dreißig Prozent. Und eine Studie aus England prognostiziert, dass Ende dieses Jahrzehnts die meisten Kinder und Erwachsenen in Stieffamilien leben werden.

Tim trennte sich vor einem Jahr von seiner damaligen Freundin, mit der er fünf Jahre zusammen war. Sie wollte ein Kind, er nicht. Mit der Frage hatte er sich zwar schon über Jahre hinweg auseinander gesetzt, für ein Leben mit Kind konnte er sich aber nie entscheiden. Tim, nun wieder Single, genoss es, mit seinem Sportwagen aufs Land zu fahren, abends mit Freunden zu kochen oder sich in ein Kunstbuch zu vertiefen. Vor einem halben Jahr, auf der Party einer Kollegin, lernte er schließlich die dreißigjährige Tina kennen.

„Tina war mit ihrer Tochter Lea dort“, erzählt Tim, „und die Art, wie sie mit ihr umging, beeindruckte mich: geduldig, herzlich, vernünftig. Und die Kleine selbst war einfach süß. Ich sagte mir: Wenn du dieses Kind nicht erträgst, wirst du nie eines ertragen. Ich verliebte mich, und die Entscheidung, ob Kind oder nicht, war damit auch gleich hinfällig. Schon absurd, wenn ich denke, dass mein Leben zuvor im Fünfjahresrhythmus funktioniert hat. Bald wurde mir klar, dass Tina und Lea für mich ein wahnwitziges Unterfangen bedeuteten. Ich überlegte hin und her und fragte mich fünfmal am Tag: Will ich diese Situation überhaupt, mit einer derart langen Perspektive und einer für mich so unklaren Rolle?“

Die Frage nach der Rolle des Stiefelternteils ist ebenso zentral wie diffizil. Das Bedürfnis, sofort Rollen zu verteilen, bestehe in vielen angehenden Stieffamilien, sagt Verena Krähenbühl. Sie war bis 1998 Professorin für Sozialarbeitswissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt. Die Familientherapeutin arbeitet seit Jahren mit Stieffamilien und hat 1985 das erste deutschsprachige Buch zum Thema geschrieben. „In der modernen Familie gibt es offensichtlich nur Platz für Mutter, Vater und Kinder“, sagt sie. Die Großfamilie hingegen sei längst aus unserem Bewusstsein verschwunden.

Schade, vor allem für die Kinder, denn für sie könne man sich doch nichts mehr wünschen als ein großes Angebot an Beziehungen. Dass Kinder fähig sind, mehrere tiefe Beziehungen zu führen und diese auch positiv zu nutzen, zeigen Studien, die sich mit der Situation von Scheidungskindern befasst haben. Neben dem Positiven findet man in der Fachliteratur viel Ernüchterndes – oft ist die Rede von Fallen, in die Stiefväter tappen können. Als eine typische Falle wird bezeichnet, dass der Mann die Rolle der starken Vaterfigur übernimmt, statt sich den Kindern als Freund anzubieten.

Zuerst ist der neue Mann aber ein Fremder, dem der Zugang zum Teilfamilienverbund nicht leicht gemacht wird. In einer Studie der Universität Tübigen von 1990 schreibt die Autorin Ingrid Friedl: „Der Integrationsprozess eines Stiefelternteils erfordert viel Toleranz und Zeit.“ Dazu bedürfe es der Offenheit und Freiheit, Rollen auszuprobieren und auch wieder aufgeben zu können. Dieser Prozess kann beim Stiefvater eine große Verunsicherung auslösen, was Verena Krähenbühl als logisch bezeichnet: „Vater wird man durch Geburt, und die Rolle ist durch eine lange Tradition vorbestimmt.“ Wie und wo solle sich aber ein Stiefvater über seine Rolle informieren? Auch die Forschung vernachlässigt die Stieffamilie, Studien zum Thema gibt es kaum. „Dass dies die meistverbreitete Familienform sein wird, wird in der Gesellschaft nicht wahrgenommen“, sagt Krähenbühl.

Thierry, ein anderer Stiefvater, fühlte sich keineswegs verunsichert. Als der 38-Jährige sich vor fünf Jahren in seine heutige Partnerin, die bereits zwei Töchter hatte, verliebte, sei das für ihn kein Problem gewesen. Er habe sich damals auch keine großen Gedanken über seine Situation gemacht, erinnert er sich. Für ihn sei einfach klar gewesen: „Wenn’s nicht hinhaut, gehe ich halt wieder.“ Der Familientherapeutin Krähenbühl sind etwas Verunsicherung und damit verbundene Reflexion lieber: Fast alle, die sich mit der Familienform und ihrer Rolle nicht aktiv auseinander setzen würden, kämen ins Stolpern.

„Es hat mich verletzt“, erzählt Tim weiter, „dass Lea auch nach vier Monaten noch in der dritten Person von mir gesprochen hat. Da verabschiede ich mich von beiden, und Lea fragt ihre Mutter: Du, wohin geht Tim? Ich hatte das Gefühl, für Lea nicht mehr als eine angenehme Dreingabe zu sein. Ich war ihr neuer Kletterbaum zum Rumkraxeln, ihr Spielpartner. Aber kaum versuche ich, drei Sätze mit ihrer Mutter zu sprechen, drängt sich Lea dazwischen. Mein Problem war, dass ich zu wenig Umgang mit Kindern hatte. Es brauchte Zeit, bis ich akzeptierte, dass ich mit intellektueller Argumentation nicht weit kam, sondern mich in einer mir fremden Art mit Lea verständigen musste.“

Meist sei das abweisende Verhalten der Kinder nicht gegen den Stiefvater als Person gerichtet, sagt Krähenbühl. „Das sind Positionskämpfe.“ Mutter und Kinder haben eine schwere Zeit hinter sich. Sie mussten vom Vater und oft auch einem Teil des Umfelds Abschied nehmen. Sie hatten ihr Leben neu zu ordnen. In dieser Situation können die Kinder in gewissen Bereichen zum Partnerersatz für die Mutter werden, wo sie Wärme und Unterstützung sucht. Und diese herausgestellte Rolle verlieren die Kinder durch den neuen Mann in der Familie. „Eine ganz große Konkurrenz“, sagt Krähenbühl. Und es bedeutet das abrupte Ende vom Traum, dass sich die Eltern wieder in einer gemeinsamen Familie wiederfinden werden. Wie man aus Studien weiß, ein Wunsch, den sämtliche Scheidungskinder hegen, egal wie schlecht das Verhältnis innerhalb der Familie war.

Umso mehr Bedeutung wird der intakten Beziehung der Kinder zum getrennt lebenden Vater in den Fachbüchern beigemessen. Für den Stiefvater ist es nicht immer einfach, damit umzugehen: Thierry etwa hat damit Mühe, dass seine zwei Stieftöchter ihren Vater glorifizieren. Und das, obwohl sich dieser, seiner Meinung nach, nicht sehr viel Mühe gibt. Auch die Rolle der Mutter wird in der Fachliteratur stark gewichtet. Nicht von ungefähr, wie Krähenbühl sagt. Viele Mütter würden die Tatsache unterschätzen, dass sie in der Stieffamilie die Schlüsselposition innehaben.

„Tina hat mir mittlerweile die größte Arbeit abgenommen“, erzählt Tim. „Sie hat Lea erklärt, dass mich das traurig macht, wenn sie so zu mir ist. Gestern dann ist Lea zu mir gekommen, hat ‚Tschuldigung‘ geflüstert, jedoch ohne mir in die Augen schauen zu können. Mir war klar, dass hinter diesem einen Wort viel mehr stand – eine tolle Versöhnungsszene.“

Die Mutter ist die Vermittlerin. Sie muss ihrem Partner in der neuen Situation helfen, erklären und bei ihm Verständnis wecken, genauso wie bei ihrem Kind. In dieser schwierigen Rolle gerät sie schnell zwischen die Fronten und wird sich gelegentlich überfordert fühlen. Ganz abgesehen davon, dass auch sie sich in der neuen Situation erst einmal zurechtfinden muss.

„Ich bin mir bewusst, dass ich Tina in einer Extremsituation erlebe“, sagt Tim. „Lea verlangt ihr mit dem Älterwerden immer mehr ab, die finanzielle Situation ist schwierig. Und dann komme auch noch ich mit meinen Ansprüchen. Da in diesem Chaos bis jetzt eigentlich vor allem Lea im Zentrum stand, stellt sich für mich schon die Frage: Was steckt für ein Mensch hinter dieser Mutter im Ausnahmezustand? Wir hatten ja kaum Zeit einander kennen zu lernen, waren immer in allem gleich mittendrin.“

„Das neue Paar steht unter einem wahnsinnigen Druck“, sagt Verena Krähenbühl. Innerhalb kürzester Zeit muss alles miteinander harmonieren: das Paar, die neu organisierte Familie. Und für den Elternteil kommt der Druck dazu, dass es dieses Mal unbedingt funktionieren muss. Gemäß einer Studie aus den USA tut es dies aber oft nicht: Die Hälfte aller Stieffamilien geht wieder auseinander. Einen der Hauptgründe sieht Krähenbühl darin, dass sich die neuen Partner zu wenig Zeit füreinander nehmen und die Kinder zu sehr im Mittelpunkt stünden.

Ob ich mich definitiv für Tina und Lea entscheide, weiß ich vielleicht in einem halben Jahr“, sagt Tim. „Jetzt ist es noch zu früh, unser Leben ist noch eine Baustelle. Falls ich mich dafür entscheide, möchte ich eine richtige Familie – mit einem weiteren, gemeinsamen Kind.“

Wieder eine komplette – sozusagen „normale“ – Familie zu sein, ist der Wunsch vieler Stieffamilien. „Diesen Wunsch“, sagt Krähenbühl, „müssen die Betroffenen begraben. Wenn die Andersartigkeit der Stieffamilie verleugnet wird, ist sie zum Scheitern verurteilt.“ Etwas weniger absolut schreibt Friedl in ihrer Studie, dass die Orientierung am idealisierten Bild der so genannten Normalfamilie für die Entwicklung der Stieffamilie hinderlich sein kann.

Mit Fachliteratur hat sich Tim bis heute noch nicht rumgeschlagen, dafür einen Kindersitz in seinem Auto installiert: Der symbolische Höhepunkt der bisherigen Veränderung, sagt Tim. Und ein wenig auch der Ausdruck dafür, dass das Singleleben jetzt zu Ende ist.

ÜSÉ MEYER, Jahrgang 1968, gehört dem Zürcher Journalistenbüro „Alphajournalisten“ an. Er lebt in Winterthur