Die Medizin zu Markte tragen

Was sind eigentlich DRGs? Die große Hoffnung der deutschen Krankenhäuser. Aber auch ihre Angst. Denn längst nicht alle werden überleben, wenn es für eine Operation überall das gleiche gibt

„17 der Hamburger Krankenhäuser machen 90 Prozent der Versorgung“

von SANDRA WILSDORF

Als Patient ist der Mensch ein Fall. Und weil mit diesem Jahr für die Krankenhäuser das Zeitalter der Fallpauschalen begonnen hat, wird er vom Arzt nicht nur behandelt, sondern auch einsortiert. In eine von 661 möglichen Diagnosegruppen: Die „Diagnosis Related Groups“ (DRGs) werden deutsche Krankenhäuser revolutionieren. Es endet die Zeit, in der ein Krankenhaus Interesse hatte, einen Patienten möglichst lange zu beherbergen. Einerseits. Für die Krankenhäuser brechen andererseits Zeiten an, die viele nicht überleben werden.

Doch worum geht es? Krankenhäuser bekommen ihr Geld künftig nicht mehr für Tage, die ein Patient im Krankenhaus verbringt, sondern für dessen Behandlung: Herzinfakte, Geburten, Ellenbogenbrüche, Gehirntumore – alle etwa 60.000 üblicherweise vorkommenden Behandlungen wurden zu 661 Diagnosegruppen zusammengefasst, in die der Arzt jeden Patienten einsortieren muss. Zusätzlich muss er bedenken: Wie alt ist der Patient? Gibt es Nebendiagnosen, die die Behandlung aufwändiger machen? Verläuft alles glatt oder gibt es Komplikationen? Wenn ja, wie schwer? Leicht? Mittel? Intensivstation? Alle diese Faktoren fließen ein, werden gewichtet und schließlich in einem Preis abgebildet, der spätestens 2007 für alle Krankenhäuser gleich sein soll.

Preise vergleichen

Heute weiß niemand so genau, wieviel eine bestimmte Operation im AK Barmbek, im Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE) und im Amalie-Sieveking-Krankenhaus kostet. Mit den DRGs werden die Kassen allen das Gleiche geben. Es geht dann nicht darum, welches Krankenhaus bei den Krankenkassen das größte Budget herausschlägt. Sondern nur noch darum: Kann das Haus zu diesen Preisen wirtschaftlich arbeiten?

Wer da seine Strukturen nicht gnadenlos verschlankt, wer nicht alle „Wirtschaftlichkeitsreserven hebt“ – wie das im Managerdeutsch heißt, der geht bankrott. Eine einkalkulierte Folge, die dazu führt, dass Krankenhäuser ausgliedern, was nicht zum Kerngeschäft der Heilung gehört: Wäscherei, Küchen und Transportunternehmen werden maximal noch als Töchter der gehalten, müssen ihren Mitarbeitern aber keine Krankenhauslöhne mehr zahlen.

Noch ist die Teilnahme an dem neuen System freiwillig: Bis Ende Oktober hatten sich bundesweit knapp 500 Krankenhäuser zum Mitmachen angemeldet. Dass kurz vor Jahresende schnell noch fast 1000 Krankenhäuser nachgemeldet haben liegt daran, dass die Bundesregierung mit ihrer angedrohten Nullrunde eine Ausnahme bei den Häusern macht, die schon nach dem neuen System abrechnen. Die bekommen zwar auch nur 0,81 Prozent plus – was angesichts der Tarifsteigerungen auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, aber doch besser als nichts.

Die städtischen Krankenhäuser des Landesbetriebs Krankenhäuser (LBK) rechnen schon seit 1997 mit den DRGs. Vorstandssprecher Hein Lohmann ist erklärter Fallpauschalen-Fan: „Bisher wurden Denkvorgänge und Handschläge bezahlt. In Zeiten knapper Ressourcen kreiert der Einzelne eben ein paar Handschläge mehr, damit er keinen Einkommensverlust hat.“ Das führe zu nichts als einem rasanten Preisverfall und sei unsinnig. „Deshalb wird jetzt die Behandlung bezahlt, denn die kann man nicht beliebig vermehren.“

Und ein Systemwechsel ist nötig: Denn die Deutschen werden älter, die Medizin kann immer mehr. Weil aber gleichzeitig beständig weniger Arbeitnehmer in die Krankenversicherung einzahlen, wird das immer schwerer finanzierbar. Gutverdiener flüchten sich aus dem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem und lassen sich zu geringeren Beitragssätzen in private Versicherungen locken, in denen sie Beamte treffen, die es gar nicht anders kennen.

Unsere Medizin ist undurchsichtig. Niemand weiß beispielsweise, wie hoch die Komplikationsrate eines Hauses oder einer Abteilung ist. Nur bei Skandalen erfährt die Bevölkerung, wo Ärzte pfuschen. Lohmann beklagt, dass die derzeitigen Budgets keinerlei Anreiz böten, günstiger oder besser zu sein. Im Gegenteil: Wer mehr Patienten bekommt, muss sie für das gleiche Geld behandeln.

Von Mund zu Mund

„Würden wir in der Medizin weitermachen wie bisher, könnten wir in 20 Jahren nur noch die Hälfte der Bevölkerung gut versorgen“, sagt Lohmann. Nur noch ein Zehntel der Bevölkerung könnte sich die Medizin leisten, die es heute noch für alle gibt. Er sieht deshalb in den DRGs die große Chance.

Das kann er als Chef eines der größten Krankenhausbetriebe Europas auch. Denn Größe wird künftig über Wohl oder Wehe einer Klinik entscheiden. Kleine Häuser werden die Verlierer der Konzentrationsbewegungen sein, es sei denn, sie spezialisieren sich auf lukrative Gebiet wie beispielsweise Herzchirurgie. Das kleine Rundum-Krankenhaus wird es schwer haben.

Der LBK hat die Rosskur, die vielen Kliniken noch bevorsteht, bereits hinter sich: In den vergangenen fünf Jahren wurden 2.600 Arbeitsplätze abgebaut, trotzdem werden heute in den noch-städtischen Krankenhäusern mehr Patienten behandelt.

Der LBK hat gerade einen Anbieterring mit Krankenhäusern aus Wiesbaden, München und Saarbrücken gegründet. Gemeinsam drücken sie die Kassenpreise. Denn nur Riesen können mit den Kassen Mengenrabatte über eine bestimmte Anzahl Blinddarmoperationen oder Herzinfarkte aushandeln. Die Behauptung „Gesundheit ist keine Ware“, mit der die Gewerkschaft ver.di ein Volksbegehren gegen den Komplettverkauf des LBK anstrebt, ist insofern längst überholt.

Bundesweit, aber auch in Hamburg droht ein ruinöser Konkurrenzkampf. Lohmann glaubt, dass von den derzeit 40 Hamburger Kliniken nicht alle überleben werden. „17 dieser Häuser machen 90 Prozent der Versorgung, die restlichen 23 Prozent haben also einen Marktanteil von zehn Prozent.“ Diese 50.000 Patienten kosten jährlich 100 Millionen Euro, „dabei könnten sie in den anderen 17 Häusern spielend mitversorgt werden, vermutlich zu der Hälfte des Preises.“

Das provoziert die kleineren Häuser, die sich ebenfalls zu Gemeinschaften zusammenschließen. Auch die meisten der gemeinnützigen Hamburger Krankenhäuser nehmen schon jetzt und an dem DRG-System teil und begrüßen dessen Transparenz. Werner Koch, Vorsitzender der „Freien“ kritisiert aber auch, dass besonders kleine Häuser unter dem enormen Verwaltungsaufwand des neuen Systems leiden.

Das System der DRGs haben Wissenschaftler der US-amerikanischen Universität Yale Ende der 60er Jahre entwickelt. Inzwischen haben es auch in Europa fast alle Länder umgesetzt. Nirgendwo jedoch so gründlich wie in Deutschland. In den meisten anderen Ländern wird ein Teil der Krankenhausleistungen über DRGs abgerechnet, in Deutschland sollen es irgendwann alle sein.

Das System soll Kosten senken und Transparenz schaffen. Doch es gibt auch Kritiker: Sie fürchten, dass Krankenhäuser ihre Patienten künftig nicht nur schnell, sondern auch zu schnell wieder nach Hause schicken könnten, „von blutigen Entlassungen“ ist da die Rede. Doch die Krankenhäuser sind zu Qualität gehalten: Wer beispielsweise einen Patienten zu früh entlässt, bekommt kein zusätzliches Geld, wenn er ihn wegen eines Rückfalls erneut behandeln muss. Kassen werden außerdem nur noch mit den Häusern Verträge abschließen, die eine Mindestzahl bestimmter Operationen durchführen, denn internationale Studien haben den Zusammenhang zwischen Quantität und Qualität nachgewiesen. In Dänemark gibt es deshalb beispielsweise für Herzbehandlung nur noch fünf Zentren, die die Katheterbehandlung durchführen.

Millionen versickern

Die Trennung zwischen stationär und ambulant wird immer weiter aufgehoben. Denn seit Jahrzehnten versickern durch Doppeluntersuchungen und Mehrfachbehandlungen Millionen zwischen getrennt arbeitenden Niedergelassenen, den Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen und Pflegediensten.

Mit dem neuen System sind neben Hoffnungen auch Ängste verbunden: So sorgen sich Kinderkrankenhäuser um ihre Zukunft, weil die oft aufwändigere Behandlung der Kinder in den Fallpauschalen nur unzureichend abgebildet ist. Für Psychiatrien gibt es überhaupt noch keine DRGs. Und überhaupt wird alles zum Problem, wo es auf besonders intensive Betreuung ankommt, beispielsweise in der Frührehabilitation, wo Ergo- und Physiotherapie nach Meinung der Betroffenen nicht genügend bedacht wurden.

Unklar ist auch, wie sich auf den ambulanten Bereich auswirken wird, dass Menschen früher entlassen werden und damit einen höheren Pflegebedarf haben. Und auch Ärzte sind unterschiedlich erfreut über das neue System: Für sie erhöht es den Dokumentationsaufwand erheblich. Außerdem gibt es Mediziner, die fürchten, dass medizinische Neuerungen verzögert angewendet werden, weil sie in den Diagnosen nicht vorkommen.

Doch wie das so ist mit Operationen: Der Behandlungserfolg steht erst hinterher fest.