piwik no script img

„Sie wollen nicht mehr gehänselt werden“

Am ZKH Bremen-Nord haben eine Handvoll Kinder und ihre Eltern dem Fett den Kampf angesagt: In einem Langzeit-Projekt helfen Experten Adipositas-Kindern, lieber das Fahrrad als den Bus, lieber den Apfel als die Schokolade zu nehmen.Eine Reportage von Susanne Gieffers (Text) und Kerstin Rolfes (Fotos)

Eine harte Zeit wird da auf die Kinder zukommen. „Eine coole Zeit“, sagt Anton„Auf alle Fälle“, brüllt Benno, „auf alles, ey. Ich würde sogar1.000 Euro geben.“

Der Knall lässt alle zusammenzucken. Die Bank, die erst wackelt, dann schwankt, schließlich kippt, liegt auf der Seite. Neben ihr Maria*. Sie hält sich das Knie und verzieht den Mund, weil es so weh tut. Aber sie liegt nur Sekunden, dann rappelt sie sich auf, Kopf hoch, als wäre nichts gewesen. Daneben steht Benno, guckt in die Runde, lacht, ein bisschen hilflos. Bis eben noch stand er nicht auf dem Boden, sondern auf der Bank – bis Maria kam und das Gerät enterte. Zusammen wiegen die beiden Kinder weit über hundert Kilo, zuviel Gewicht für das Holzgerät in einer Turnhalle in Bremen-Nord, die Bank kracht um. Die anderen Kinder gucken, manche halten sich vor Schreck die Hand vor den Mund, Sekunden später ist die Ärztin zur Stelle. Da steht Maria längst wieder, war was? Die Brennball-Partie geht weiter.

Den Kindern in der Halle ist eines gemein: Sie sind dick. Sie sind so dick, dass das dezente Wort Übergewicht hier nicht mehr passt. „Adipositas ist mehr als Übergewicht“, sagt Tatjana Ziemek. Sie ist die Ärztin, die das Projekt betreut. „Ambulantes Langzeit-Adipositastraining“ heißt das Projekt, das im Zentralkrankenhaus Bremen-Nord entwickelt wurde. Zwei Jahre lang betreuen sie hier sechs bis acht Kinder und Jugendliche. Los geht‘s mit drei Tagen im Krankenhaus. Da werden die Kids durchgecheckt, denn es kann vorkommen, dass die Kinder bereits andere Krankheiten haben – ausgelöst durch ihr Gewicht.

So wie Anton. „Mama, was ist mit meinem Herz?“, fragt er. Er sitzt auf der Bank, guckt den anderen zu, wie sie von Kasten zu Bank zu Kasten zu Ziellinie rennen. „Benno, lauf!“ brüllt er und stampft mit den Füßen auf. „Der Ingo ist voll schlau“, schreit er und zupft seine Mutter am Ärmel und deutet aufs Spielfeld, wo Ingo den Ball behende weiterwirft. Seine Mutter erklärt: „Sie wissen nicht, ob dein Herz die Belastung mitmacht.“ Weil die Tests die Frage offenlassen, muss Anton noch zum Kinderkardiologen und jetzt erstmal zugucken beim gemeinsamen Spiel von Kindern und Eltern, einer der Säulen des Trainings: In den ersten zwölf Wochen, der so genannten Intensivphase, treffen sich die Kinder regelmäßig zur gemeinsamen Bewegung. An manchen Treffen nehmen auch die Eltern teil. Denn das ist es, was zu Hause oft fehlt. Neben der regelmäßigen Bewegung – es geht ausdrücklich nicht um sportliche Höchstleistungen, sondern darum, die Freude am Bewegen und an den Möglichkeiten des eigenen Körpers zu entdecken – lernen Kinder und Eltern, was gesunde Ernährung ist.

Was intensiv beginnt, nimmt im Lauf der Monate ab – die Abstände zwischen den Treffen von Team und Kindern wie Eltern werden größer. Am Schluss soll das, was Kids und Eltern während des Trainings gelernt haben, im Alltag integriert sein. Treppe statt Fahrstuhl, Fahrrad statt Bus, Apfel statt Schokolade – halt: „Alles ist erlaubt, auch eine Tafel Schokolade“, sagt Ärztin Ziemek. Druck oder gar Zwang soll vermieden werden, das damit verbundene schlechte Gewissen erst recht. „Natürlichkeit ist angesagt“, bringt Psychologe Ingo Weidanz das Ziel auf den Punkt. Das bedeutet nicht in erster Linie Abnehmen, sondern erstmal das Gewicht zu halten, vielleicht es ganz langsam zu reduzieren. Die Kinder wachsen noch – damit bedeutet allein unverändertes Gewicht schon eine Reduzierung.

Eine harte Zeit wird da auf die Kinder zukommen. „Eine coole Zeit“, sagt Anton auf seiner Holzbank, „es kann nur besser werden.“ Das klingt schon sehr erwachsen, ebenso bei Maria: „Es wird zwar anstrengend, aber ich freu‘ mich drauf.“ Maria ist zwölf. „Ich wiege 72 Kilo“, sagt das Mädchen mit den roten Haaren. „Ich werde immer blöd angeguckt, aber nicht wegen meiner Haare, sondern weil ich so dick bin.“

„Sie wollen nicht mehr gehänselt werden“, sagt Tatjana Ziemek zum allgemeinen Motiv. „Die wollen die Klamotten tragen, die sie mögen“, glaubt Marias Vater. „Alles kann man nicht alleine ausarbeiten, das geht einfach nicht“, meint Antons Mutter und erzählt von den Kinderkuren, die ihr Sohn schon absolviert hat. „Nach einem Jahr war‘s alles wieder da, doppelt soviel.“ Sie berichtet vom großen Bruder, der „ganz unauffällig“ sei. Von Antons „Schulstress“, davon, dass sie gar nicht hinterhergekommen sei mit dem Verstecken der Süßigkeiten. Und dass es eine harte Zeit werde. Anton sagt: „Nö, cool.“

Die wenigsten Eltern reden offen über ihren Anteil am Dicksein der Kids. „Eigentlich“, sagt Marias Vater ein bisschen zögernd, „haben wir ja nichts falsch gemacht.“ Dass sie dennoch wesentlicher Teil einer Dynamik sind, die sie nun mit ihren Kindern gemeinsam durchbrechen wollen, scheint allen klar. Denn sie sind entschlossen, die zwei Jahre mit ihren Sprösslingen durchzuhalten.

„Mama, du kannst doch auch mitspielen“, sagt Anton und stupst seine Mutter an. „Nee“, antwortet die, „ich bleib hier sitzen, aus Solidarität.“

Ein Schmetterling, ein Pfauenauge, flattert aus der sonnendurchfluteten Tür ins Neonlicht der Halle, zwischen den rennenden Vätern, Müttern, Jungs und Mädchen, hoch und nieder, landet schließlich knapp neben der Ziellinie und bewegt sanft die Flügel. „Anton, sieh mal“, seine Mutter deutet auf das filigrane Wesen. Anton steht auf, ein Stück Papier in der Hand, beugt sich über den Falter und schiebt ganz sanft das Papier unter die zarten Beinchen. Ruhig bleibt der Schmetterling sitzen, als Anton ihn mit schleichenden Schritten zum Ausgang trägt.

Später dann sitzen die Kids zusammen. Das Ende der ersten Phase ist vorbei. Drei Tage lang haben sie sich kennengelernt, haben erfahren, was Lebensmittel „im roten, gelben und grünen Bereich“ sind und lassen sich jetzt aufs Neue sagen, dass es Apfelschorlen im roten – viel Saft, wenig Wasser –, im gelben und im grünen Bereich – mehr Wasser, weniger Saft – gibt. Nicht nur physisch wurden die Kinder in diesen drei Tagen durchgecheckt. Tatjana Ziemek, Ingo Weidanz, die Kinderkrankenschwester Marianne Faouzi und der Kinderkrankenpfleger Johannes Knur setzen vor allem auf Gruppenfähigkeit. Noch sind sie sich nicht sicher, ob alle zehn Kinder dazu in der Lage sind. Aber jetzt, in den letzten Minuten am Ende der ersten drei Tage, ist davon noch keine Rede. „Spitzenmäßig, dass ihr euch so gut vertragt“, sagt Psychologe Ingo, „ich glaube fest daran, dass jeder von euch das schafft, was er sich vorgenommen hat.“ Kinderkrankenpfleger Knur, der vorhin auf dem Flur inmitten von tobenden, rennenden, lachenden Kindern „Energie pur“ geschnauft hat, sagt jetzt: „Ich möchte keinen von euch mehr missen.“ Die Kids sind ganz still. „Ich möchte das gerne machen“, sagt Anne, 12. „Ich auch“, rufen Mark und Tanja, beide 12. „Auf alle Fälle“, brüllt Benno, „auf alles, ey. Ich würde sogar 1.000 Euro geben.“

Soviel müssen sie nicht geben – das Programm zahlt die Krankenkasse. Aber die Eltern müssen 400 Euro, rund ein Fünftel der Gesamtkosten als Kaution zahlen. Damit sie bei der Stange bleiben. Eine Strategie, die zwar für die häufig nicht sehr betuchten Eltern harsch anmutet, die sich aber als Motivationsverstärker bewährt habe, so die Ärztin Tatjana Ziemek. Das Geld bekommen sie am Ende des absolvierten Programms zurück. Und in besonderen Härtefällen sind Ziemek und ihr Team verhandlungsbereit.

Im Foyer der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des ZKH Bremen-Nord sammelt sich eine lärmende Truppe. Die Kinder haben ihre Sachen zusammengesammelt, Eltern tragen Schafe, Teddys, Taschen und CD-Player. „Bis nächste Woche“, rufen sie einander zu, denn dann geht es los, das ambulante Training. Laufen, Hüpfen, Spielen, Kochen, in grün und gelb, und in rot bitte in Maßen.

Die Flure der Kinderstation scheinen plötzlich leer, Tatjana Ziemek und ihre Kollegen sammeln die Gläser ein. Auf dem Tisch liegt noch ein Zettel, darauf mit Buntstiften gemalt ein Blumenstrauß. Maria hat das Blatt Tatjana Ziemek gegeben, schüchtern, ganz zum Schluss. Unter den bunten Blumen steht: „Ich mag euch.“

*Namen der Kinder geändert

Weitere Informationen über das ambulange Langzeit-Adipositastraining am ZKH Bremen-Nord unter ☎ 0421/6606-1555.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen