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: HELMUT HÖGE über verschiedene Viertel

Das Rohe und das Gekochte

Wenn man vom autonom-islamischen Kreuzberg ins christlich-sozialistische Prenzlauer Berg kommt, fällt einem als Erstes auf, wie roh dort alles ist: von der Kleidung und den Speisen über die Bedienung und den Straßenhandel bis zu den Kneipen und der Gentrification. Es gibt so gut wie keine Telefonierläden in Prenzlauer Berg, in Kreuzberg dagegen an jeder Ecke einen.

Zwar hat der Ostbezirk seine Bevölkerung fast komplett ausgetauscht, aber er ist deutsch geblieben, und jeder hat zwei Telefone. Detlef Kuhlbrodt führt das Rohe des Prenzlauer Bergs auf den geringen Ausländeranteil zurück. Es stimmt, das gut Durchgekochte Kreuzbergs ist den Türken und ihren kulturellen Einrichtungen – von der Familie über die Geschäfte und die Arbeiterclubs bis zu den Religionsvereinen – zu verdanken. Die wenigen Deutschen sind hier zum großen Teil fertig, voller Macken oder eher asozial. Auch die Türken haben ihre rohesten Geschäftsleute nach Prenzlauer Berg abgeschoben. Wer ihre Läden in Kreuzberg frequentiert, dem kommen die Tränen im Osten. Selbst die einfachsten Dönerbuden sind dort Verbrechen am Schaf und am Kunden. Aber gegenüber dem McDonald’s-, Großkino-, Allee-Arcaden- und Kulturbrauerei-mit-Bayernlokal-Publikum auf der Schönhauser Allee wirkt selbst der Fixertreffpunkt am Kottbusser Tor wie ein Intelligenzler- und Gourmettreffen. Und das ist er auch.

Vor allem leidet Prenzlauer Berg unter seinen neuen westdeutschen Eigentümern, die bei ihren Hausrenovierungen mit jedem Kamelhaarpinselstrich „ein Stück Sozialkultur“ (Habermas) ausradierten. Mühsam versuchen jetzt die neu zugezogenen Jungmütter auf den Bänken der Kinderspielplätze aus diesen Ruinen wieder etwas (demokratisch) Neues aufzubauen – beim privaten Erziehungskombinat „Klax“ ist es ihnen schon fast gelungen.

In Kreuzberg kämpfen solche „Initiativen“ seit über 35 Jahren, und das nicht nur – wie die BI Oderbergerstraße – an einer Ecke. Und wenn auch die schlimmsten Karrieristen und Dachgeschosslumpen mehrmals über die Militanten siegten, entweder zogen sie dann in bessere Viertel, oder sie kamen ebenfalls herunter – auf Sozialhilfeniveau bzw. Kleinkriminalität. Nur einige wenige ganz Ausgekochte haben sich gehalten – wie etwa die Betreiberin des „Blockschock“: mit einem selbst finanzierten Eintrag im „Who’s who“ oder dem einst stadtbekannten Model – mit lauter „Fotografieren verboten“-Schildern an den Fenstern. Im Prenzlauer Berg sind dagegen selbst die Promis gemein und roh: Günter Grass im Pasternak, Bill Clinton im Gugelhof, Minister Trittin in der U 2.

In Kreuzberg werden nicht nur etliche Irre von den türkischen Händlern mit durchgefüttert, auch die Bettler machen sich dort einen Namen und besetzen einen Stammplatz, in Prenzlauer Berg können solche Leute dagegen jahrelang wirken, ohne wahrgenommen zu werden – außer von den Bullen. Das hängt dort natürlich mit dieser irssinigen Masse an lebensgeilen jungen Menschen in modischen Klamotten zusammen. Es gibt in Prenzlberg junge Frauen, die nur für ihre Tattoos, Piercings, Fitness- und Solariumsbesuche anschaffen gehen. Selbst 42-jährige Mütter, die von ihren Ehemännern ausgehalten werden, sind hier so stolz auf ihre Erscheinung und den Ort ihrer Selbstverwirklichung (auf dem Ökomarkt am Kollwitzplatz z. B.), dass jeder Provinztourist und jeder Eingeborene sofort denkt: Sie haben den Schlüssel zum Glück gefunden. Dabei führen sie nur die allergewöhnlichste Öko-Prénatal-Existenz vor – und zurück. Die Öffnung der Mauer hat es Kreuzberg leicht gemacht: Die widerlichsten und angepasstesten Deutschen haben sofort das Viertel verlassen – und sind nach Prenzlauer Berg gezogen. Zusammen mit den neuen Hausbesitzern bilden diese Westweicher dort nun ein „internationales Flair“ aus, das sich gewaschen hat. Die Buchhandelskette Thalia hat gerade nach Übernahme von Kiepert in den Allee Arcaden das Sortiment um 40 (von 100) Intelligenzpunkten gesenkt – und der Laden flutscht!

Ähnliches versucht man jetzt leider auch in Kreuzberg: Dort hat der roheste aller rohen Immobilienentwickler und -verwalter, Wertkonzept-Müller, an der Schlesischen Straße den Bau der zukünftigen Spree-Arcaden an sich gerissen. Aber er wird scheitern! Stattdessen entsteht daraus eine weitere schöne Moschee. So wird hier jedenfalls quartiersmanagementmäßig gewettet.