Ein ausgezeichneter Ort in Sachsen

Hinterhermsdorf hat im Bundeswettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ eine Goldmedaille abgeräumt. Das schönste Dorf Sachsens hat keinen Kirchenchor, dafür aber Tschechien vor der Tür und eine sorgsam konservierte Idylle. Ein Besuch

von WALTRAUD SCHWAB

Hinterhermsdorf hat die ganz große Karriere gemacht. Erst gewann es alle dörflichen Schönheitswettbewerbe der Sächsischen Schweiz. Danach wurde es schönster Weiler in ganz Sachsen. Kurz darauf war dem Ort an der tschechischen Grenze eine deutsche Goldmedaille in der Serie „Unser Dorf soll schöner werden“ sicher. Die neueste Auszeichnung der bukolischen Idylle trägt den internationalen Stempel: „Europäischer Dorferneuerungspreis“ steht auf der Urkunde, die noch nicht in der „Hall of Fame“ hängt im „Haus des Gastes“ der 800-Seelen-Gemeinde am äußersten, östlichen Rand Deutschlands.

Eingemeindet ist der Ort ein Teil von Sebnitz, was die Hinterhermsdorfer ärgert, der zehn Kilometer entfernten Kleinstadt allerdings nützt. Denn seit dem mysteriösen Tod eines kleinen Jungen im Schwimmbad ist die sächsische Gemeinde ihren rassistischen Makel nicht mehr los geworden, trotz aller Dementi. Nun würde Sebnitz mit den nationalen und internationalen Auszeichnungen von Hinterhermsdorf hausieren gehen, ist in säuerlich vorgetragenen Nebensätzen der Dörfler zu hören.

Weil die romantisch gelegene Ortschaft so viele Preise gewonnen hat, wurde entschieden, dass Hinterhermsdorf zehn Jahre lang nicht für einen Schönheitswettbewerb nominiert werden darf. Harte Bedingungen für diesen Flecken, der von 180 Grad Tschechien umgeben ist und gut als Filmkulisse für ein sächsisches „Chocolat“ taugen könnte. Allerdings nicht mit Juliette Binoche in der Hauptrolle, sondern mit Katharina Thalbach. Zudem müsste der Film der Authentizität wegen „Böhmische Quarkkeulchen“ heißen.

1445 zum ersten Mal erwähnt, hat Hinterhermsdorf eigentlich nichts Spektakuläres zu bieten. Einzig eine alte böhmisch-sächsische Handelsstraße zieht sich quer durch die Gemeinde. Händler und Schmuggler waren hier Helden. Von einem bescheidenen Platz unweit des Weihers breitet sich das Dorf in sternförmigen Ausläufern aus, die sich an sanfte Hügel schmiegen.

Kleine Häuser sind es, die in übereinander gefaltete Anbauten, gebogenen Türmen, sich verschachtelnden Erkern mäandern. Verwinkelt wirkt das, aber nie gewollt. „Umgebindehäuser“ sind der traditionelle Standard vom letzten Jahrhundert. Es sieht aus, als stünden die oberen Stockwerke auf geschwungenen, hölzernen Brücken. Umsäumt werden die Häuser von lattenzaunbewehrten Gärten. Davor stehen Bänke. Verwittert und windschief kommen sie daher, was dem Charme zuträglich ist. Gerade so, als bedeute Zeit hier noch Kontemplation. Über dem Häuserensemble steht die hell gestrichene Kirche. Sie schützt das Dorf nicht. Das Imposante des Glaubens ist in der sächsisch-böhmischen DDR auf Du-und-du geschrumpft. Das Vereinsleben sei zwar für die Dorfauszeichnung wichtig gewesen, aber ein Kirchenchor fehlt. Stattdessen ein Heimatverein mit seiner Wiederentdeckung der Mundart, und eine Feuerwehr, die sich zu grenzüberschreitender Hilfeleistung verpflichtet. Die Dörfler haben über Jahrhunderte hinweg immer nur den Notwendigkeiten gehorcht.

Hinterhermsdorf liegt im Nationalpark „Hintere Sächsische Schweiz“. Alles ist hier Appendix. Großen Versprechungen lassen sich damit nicht machen, denn nach „hinter“ kommt nichts mehr. Dabei gibt es unweit des Dorfes ein landschaftliches Kleinod: die Kirnitzsch. Der Gebirgsfluss hat sich sein Bett über Jahrtausende mitten durch den weichen Stein des Elbsandsteingebirges gesucht. Träge fließt er, der früher Transportweg der Holzflößer war, tief unten dahin. Meist versteckt er seine dämonische Kraft in wilder Beschaulichkeit. Dass er jedoch lauerndes Monster ist, hat er bei der Flut im letzten Sommer gezeigt. Hinterhermsdorf allerdings liegt mit rund 400 Höhenmetern zu hoch, als das das Wasser hätte Schaden anrichten können.

Die bizarren Felsentürme und die geschmeidig aussehenden Tafelberge, die rechts und links des Ufers aufragen, verdichten sich zum Phantasma einer verlorenen Landschaft. Canyon, Schlucht, Klamm. Kein Wort, das die Enge, die steil abfallende Dimension, das Wildromantische beschwört, wird ausgelassen. Eine Kulisse für Wildwestfilme.

Entlang der aufragenden Felsformationen führen Wanderwege. Der Blick von oben auf die Schlucht weckt Begehren, der unten entlang des Wassers jedoch Sinnlichkeit. Das Schöne will besessen werden, aber Natur erlaubt dies nur im Betrachten.

Findige Einheimische stauten schon vor 100 Jahren im Sommer den Fluss und ruderten Touristen durch die imposante Landschaft. Dabei zeigen sie bis heute auf die aufragenden Tafelberge, denen Namen gegeben wurden, die zwischen Urwald, Wüste und Märchenwelt nicht trennen. Kamel. Elefant. Berggeist.

Hinterhermsdorf bietet auch Grenzerfahrung. Versteckt im Wald liegt sie. Ein Schritt und noch ein Schritt und dann ist das Fremde, das Unbekannte erreicht. Der Weg führt vom Dorf über einen windigen Hügel, weiter bergan in den Wald. Und plötzlich der Schlagbaum. Die Holzhütte, die für den Zöllner gemacht ist. Hier beginnt der Osten. Er ist unbewacht. Der gefrorenen tschechische Boden unterscheidet sich nicht vom deutschen. Ein Glücksgefühl, ob so viel des Vertrauens.

Ein schöner Ort ist Hinterhermsdorf, weil er nichts vortäuscht zu sein. Vor allem im Winter, wenn Schönheitswettbewerbe niemals stattfinden würden, ist das Spröde zu spüren. In so einem Winkel der Landkarte, wo das Andere auf allen Seiten lauert, haben sich die Bewohner schon lange ihre eigene Wahrheit gezimmert. „Die jungen Männer holen sich ihre Frauen von drüben“, erklärt die Angestellte im Haus des Gastes. Ein Grund, warum niemand hier Tschechisch lernen müsse. Die Frauen von dort sprächen Deutsch. „Zwangsläufig. Wegen der Geschichte“, sagt sie.

Haus des Gastes, Weifbergstr. 1, 01855 Hinterhermsdorf, Tel. (03 59 74) 52 10