Erfurt grüßt Prüm

Leser schreiben Lesern: Der Schlagabtausch zum Fall Henschel hat begonnen

Am vergangenen Samstag veröffentlichten wir an dieser Stelle den Brief eines Lesers an den Wahrheit-Autor Gerhard Henschel („Prüm grüßt Hamburg“). Gestern erreichte uns der folgende Brief eines Lesers aus Erfurt.

Sehr geehrter Herr Hanspeter Kriebelherr!

„So nicht“, war mein erster Gedanke, als ich in der taz vom 4. Januar 2003 Ihren Brief an Gerhard Henschel las. Denn der von Ihnen angeprangerte „Umgangsstil“ des Autors mag zum Himmel schreien, aber Sie vermengen die berechtigte Kritik mit Ihrer eigenen Privatproblematik (Ihre Mutter benötigt ein Treppenhaus von mindestens 1,5 x 2,4 x 0,9 Kubikmetern als Durchgangsgehäuse zur Wohnung des Dichters). Und hier beginnt mein Fragenkatalog.

Erstens. Wenn Sie als Mittvierziger in Wohngemeinschaft mit Ihrer (behinderten?) Frau Mutter leben, so ist das voll anerkennenswert.

Zweitens. Sie sprechen die Frage der „europäischen Einigung“ an. Dagegen wäre mancherlei einzuwenden. Ich liste mangels Raum nur einige Stichworte auf: Slowenienfrage, Baskenland, kurdische Separatisten, Atatürk, Chomeini, Ägypten, Nil-Delta, Tirol, Elsass-Lothringen, Prager Frühling, Gruppe 47, geschlechtsspezifische Sichtweise (Gender-Debatte). Dies zur Beschreibung des explosiven Bodensees, auf welchem Sie „Schlittschauh laufen“.

Drittens. Für einen psychoanalytisch geschulten Zeitgenossen liegt es auf der Hand, dass Sie Ihre unausgelebten Mutterkonflikte mit politischen Argumenten verbrämen. Eben hierzu kann ich aus meiner privaten Sicht etwas schildern, da ich selbst mit meiner Mutter, die mittlerweile verstorben ist, manchen „Strauß“ auszufechten hatte. Um es kurz zu machen: Meine Mutter hatte trotz ihres schweren Hüftleidens bis 1944 eine führende Position im „Bund Deutscher Mädel“ bekleidet. Na und? Soll ich sie deshalb verachten? Sie hatte an den „Führer“ geglaubt, wie so viele ihrer Generation, und ist bitterlich enttäuscht worden, nicht zuletzt von dem „Verräter Frahm“, der seinerzeit unter dem Pseudonym „Willy Brandt“ in meiner Heimatstadt Erfurt am Hauptbahnhof die westliche Entspannungspolitik besiegelte und somit sein „gerüttelt Maß“ zur Befreiung des Ostblocks beitrug, auch und gerade für uns Frauen! Ich weiß, dass mir manche „Altvorderen“ der PDS den Mund verbieten wollen, wenn ich darauf zurückkomme, aber ich muss als Mann für die Wahrheit einstehen.

Zweitens haben die Schergen des Stolpe-Regimes nach der Maueröffnung gewissen „Schubiacken“ so manchen „Kleinkredit“ gewährt. Ich selbst habe nie einen Pfennig zu Gesicht bekommen, geschweige denn nach der Währungsumstellung die ausgebührte Summe für den 1947 niedergebrannten Hof meiner Eltern in Pritzwalk noch das Honorar für die Entbehrungen in der Systemzeit ab 1918.

Spotten Sie also nicht zu früh, lieber Herr Kriebelherr. Ich würde es Ihnen nicht wünschen, dass Sie das Elend im geballten Haufen erleben möchten wie unsereins. Da ist doch eine frische Stimme wie die des Herrn Henschel noch immer ein Hoffnungszeichen, auch und gerade für uns Witwen aus der ehemaligen DDR.

Mit freundlichen Grüßen,

Rolf Thielecke,

Erfurt, 8. 1. 2003