Alle Wetter, alle Ligen

Schlammschlachten, Dauerregen, verkaterte Fans und der beste DJ seit Menschengedenken: Fußball zwischen den Jahren in England, wo das Wort „Winterpause“ noch unbekannt ist

Tausende stehen vor den Toren, genießen völlig durchnässt die Atmosphäre

aus London HOLGER PAULER

22 Spieler in Braun rutschen wild durch die Gegend – auf der Jagd nach einer Kugel, die sich kaum vom Untergrund unterscheiden lässt. Angetrieben werden sie von einer hysterischen Masse, die sich bei fünf Grad und waagerecht peitschendem Regen die Kehle aus dem Hals schreit. Willkommen zur fußballerischen Schlammschlacht im St. James Park von Newcastle, der Fußballhölle im englischen Norden. Dass der Ball an diesem Januarabend doch noch den Weg ins Tor der Gäste aus Liverpool findet, ist eher dem Zufall als der spielerischen Klasse der „Magpies“ geschuldet. „Newcastle hat den besseren Ball gespielt“, findet aber Liverpools Coach Gerard Houllier. Am Wetter habe es also nicht gelegen. Man nimmt die Bedingungen als gegeben hin.

Auf der Insel ist alles anders. Vom zweiten Weihnachtstag an grätschen Profis in allen britischen Profiligen wieder um Tore und Punkte, auch am Neujahrstag – auf Spielflächen, die den Namen „Rasen“ schon lange nicht mehr verdienen. Fußball zwischen den Jahren ist auf der Insel eine über viele Jahrzehnte gepflegte Tradition; eine Tradition, die allerdings auf der Kippe steht. Britische Funktionäre überlegen, im Winter eine vierwöchige Pause einzulegen. Das Motto „Alle Wetter, alle Ligen“ hat dann ausgegrätscht.

Welcome back to London. Unsere Unterkunft in North Finchley erinnert stark an „Trainspotting“. Immerhin hat das Bad mittlerweile eine Tür, „anders als beim letzten Mal“, erzählt Martin, der sich mit mir auf die Reise begeben hat. Tony, einer von unseren vier Gastgebern und überzeugter Tottenham-Fan, heißt uns willkommen: „Klinsmann, Freund, Ziege, we love you.“ Schnell die Sachen ausgepackt und ab in den Pub. „Aber nur kurz“, werfe ich ein, „wir müssen morgen fit sein, unsere erste Partie Fulham gegen Manchester City steht an.“ Der Abend lehrt uns: Das Wort „kurz“ gibt es in England nicht, immerhin finden wir den Weg nach Hause.

Der nächste Morgen. Der Kater verstärkt den eh schon unerträglichen Gestank in den Tube-Schächten. Die Fahrt gen Westen zieht sich. Nach einer Stunde sind wir an der Loftus Road. Seit einiger Zeit finden die Heimspiele Fulhams in der Heimstätte der mittlerweile drittklassigen Queens Park Rangers statt. Der geliehene Ground hat den Charme der 70er-Jahre. Das vereinseigene Craven Cottage sollte derweil umgebaut werden, doch die Maßnahmen wurden kurzerhand gestoppt. „Zu teuer“, glaubt Mister Mohammed Al Fayed, Präsident und Mäzen, kurz: Alleinherrscher über den Club.

Der Pate des FC Fulham betritt eine Stunde vor Spielbeginn auf wackligen Beinen den Rasen – eine theatralische Selbstinszenierung des vielfachen Milliardärs. Al Fayed ist verantwortlich dafür, dass der Verein aus dem Londoner Südwesten den Durchmarsch aus der viertklassigen Third Division in die Premier League geschafft hat. Dafür vergöttern sie ihn hier. Dass der Club demnächst aber höchstwahrscheinlich ohne Heimat dasteht, strapaziert die Geduld der Fans. Ein Dutzend Transparente zeugt während des Heimspiels gegen Manchester City vom Unbehagen der Zuschauer. Echte Heimspielstimmung kommt nicht auf. City behält die Oberhand – auf Rängen und Rasen. Eine Einzelleistung des überragenden Nicolas Anelka kurz vor Schluss entscheidet das Match. Die „Blues“ gewinnen und schicken die Gastgeber noch tiefer in den Abstiegssumpf. Kein gutes Jahr für Fulham.

Tony ist dies recht. Als eingefleischten Tottenham-Fan erfreut ihn jedes Missgeschick der anderen Londoner Vereine. Seit dem Uefa-Cup-Aus Fulhams gegen Hertha BSC Berlin hegt Tony seltsamerweise Sympathien für den deutschen Hauptstadtclub. Na ja. Der große Rivale bleibt jedoch Arsenal. Es geht hier schließlich um die Vorherrschaft im Londoner Norden. Die Grounds der beiden Clubs liegen nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Als Tony erfährt, dass wir Karten für das am nächsten Tag stattfindende Heimspiel der Gunners gegen Liverpool haben, bricht er kurzerhand die Unterhaltung ab. Am nächsten Morgen schwört er uns darauf ein, ein paar Pfund auf einen Tottenham-Sieg in Newcastle zu setzen. „Absolutely superb away form.“ Schaun mer mal.

Wir machen uns auf den Weg nach Highbury, zu spät, wie sich herausstellt. Alle Umsteigebahnhöfe in Richtung Arsenal sind gesperrt, ein Fahrrad haben wir auch nicht. Nach einer Irrfahrt durch Nordlondon kommen wir doch noch an. „Highbury The home of football“ heißt es über einem der Eingänge, der, eher an ein Fabriktor erinnernd, zwischen den zahlreichen Einfamilienhäusern versteckt ist. Das Spiel läuft seit zehn Minuten. Die Pressekarten sind weg. Die Plätze an den Zäunen, wo etliche Menschen verzweifelt versuchen, zumindest einen kleinen Ausschnitt des Spielfeldes zu erhaschen, sind längst vergeben. Tausende stehen mit uns vor den Toren, genießen völlig durchnässt die Atmosphäre, die über die Tribünen hinüberschwappt. Andere blicken gebannt auf die Zuschauerreaktionen im North End. Der absolute Wahn. Wir ziehen es vor, uns die zweite Halbzeit im Pub anzuschauen. Die Sympathien hier sind geteilt. 50 Prozent für, 50 Prozent gegen die Gunners (bzw. für die Spurs, die zuvor verloren haben). Arsenal schafft durch einen unberechtigten Elfmeter kurz vor Schluss noch den Ausgleich. Ein schlechter Tag für die Spursfans.

Bis zum nächsten Spiel sind es drei Tage. Dazwischen liegt New Years Eve. Wir feiern im „Triumph“, Tonys Homepub. Typisch britisches Inventar, Samtsessel, massive Eichentische. Das Publikum kommt aus der Nachbarschaft. Altersdurchschnitt weit über 40. „Opa-Kneipe“, würde man im Ruhrpott sagen. Aber: Der beste DJ seit Menschengedenken. 60s–70s Rock ’n’ Soul, Ska und Dub. Der obligatorischen Schlägerei können wir gerade noch ausweichen, dafür gibt es um 24 Uhr auch keine Böller.

Das Aufstehen fällt am nächsten Tag besonders schwer. Es geht nach Charlton, in den Südwesten Londons, zum Derby gegen den Tabellenletzten aus West Ham. Seit drei Tagen Dauerregen. Bei der Entgegennahme der Tickets erfahren wir durch die Lautsprecherdurchsage, „the game is postponed“. Von wegen alle Wetter, alle Ligen. Wir sind die Einzigen, die sich lautstark aufregen. Zurück in Finchley, erleben wir am Fernseher die unglückliche Aufholjagd von Chelsea in Highbury und den späten Gegentreffer von Tottenham in Southampton. Von Tonys prophezeiter Auswärtsstärke ist nicht zu spüren. Zum Glück haben wir den Wettschein erst gar nicht abgegeben. Bei unserer Abreise am nächsten Abend regnet es immer noch. Für das Wochenende sind weitere Spielabsagen zu befürchten. Schlechte Argumente für den Fußball.