Was der Körper hinzugelernt hat

Duette hat das Choreografenpaar Rubato oft getanzt. Mit „Alleine“ zeigen sie im Theater am Halleschen Ufer erstmals zwei füreinander entwickelte Soli. Das eine nimmt im Tanz den Tod vorweg, das andere ist von ungebrochener Kraft

Seit 17 Jahren bilden Jutta Hell und Dieter Baumann das Duo Rubato. Sie haben zusammen dramatische und witzige Tanztheaterstücke in den Achtzigerjahren entwickelt und eine sehr pure Bewegungsforschung Anfang der Neunziger. Ihre Duette haben sie oft gemeinsam erarbeitet, für die Choreografien für ein größeres Ensemble zeichnete meist einer verantwortlich. Gastspiele und Recherchen führten sie in den letzten Jahren mehrmals nach Asien, und ihr letztes, spektakuläres Stück „Person to Person“ entstand aus der Bewunderung für Jin Xing, eine chinesische Tänzerin, die einmal ein Mann war. Im Verlauf von 17 Jahren hat sich der Kontext, aus dem heraus Hells und Baumanns Stücke entstanden, sehr oft verändert – literarische Vorlagen, Begegnung mit anderen Tanzkulturen, Basisforschung über die Entstehung von Bewegung, Diskurse über die Identität im Körper und in der Vorstellungskraft.

Wenn die Stücke und Choreografien, die Hell und Baumann mit größeren Gruppen oder für andere Ensemble erarbeitet haben, einer Öffnung gegenüber der Welt gleichkommen, so stellen ihre Duette reflexive Prozesse dar, die in ungestörter Konzentration nachvollziehen, was der Körper neu erfahren, hinzugelernt oder auch vergessen hat. Sie markierten Standortbestimmungen und Selbstvergewisserungen und waren deshalb, dem oft abstrakten Bewegungsmaterial zum Trotz, von einer intimen Intensität.

In „Alleine“ zeigen die beiden Tänzer nun erstmals zwei Soli, die sie jeweils unter den nachfragenden Blicken des anderen entwickelt haben. Man könnte vermuten, dass für beide, 1954 und 1955 geboren, die Veränderung durch das Altern eine Rolle spielt – aber sichtbar wird das nur im Part von Jutta Hell, die viel mehr Unsicherheiten zulässt als Dieter Baumann. Das Verwischen der Körpergrenzen, das Zerfließen der Konturen, die sich zu ungewissen und grotesken Schemen ausdehnen, kommen in ihrem Part in sehr langsamen und schattenreichen Bildern zu Ausdruck. Sie betritt als Zweite die fast leere Bühne, zuerst nur mit einer Lampe, die sie vor ihren Körper hält.

Das erzeugt eine Atmosphäre wie in einer Höhle, an deren Wänden im Licht der langsam eindringenden Forscher menschenähnliche Figuren sichtbar werden – ob tanzende Geister der Ahnen, Götter oder Menschen, wer weiß das schon. Die Schatten der Tänzerin, die sich mit kleinen Bewegungen nur in den Knien und der Hüfte langsam vorwärts schiebt, fließen über die grauen Stellwände wie Projektionen der Angst. Es sind ja nur Bilder des eigenen Körpers, und doch nehmen sie seine Auflösung und das Verschlungenwerden von einer endlosen Dunkelheit vorweg. Wenn Jutta Hell später im bunten Rock und gut ausgeleuchtet dynamische und ausgetüftelte Sequenzen hinlegt, spürt man die Schattenbilder noch als Hintergrund, der jetzt die Freude über jede klare Linie und jeden scharf geschnitten Bogen schärft.

Das eigene unter dem Blick des anderen zu finden, scheint für Jutta Hell ein Prozess von größerer Härte und Kritik als für Dieter Baumann gewesen zu sein. Sein Solo ist strahlender, von ungebrochener Kraft und Expressivität. Sie setzt sich aus, er genießt den Moment. Bei ihr wird der Prozess der Formfindung durchsichtig. Die Ungleichheiten zwischen der inneren Wahrnehmung und dem, was nach außen kommunizierbar ist, führen immer wieder zu Verzögerungen, um das eine dem anderen nachkommen zu lassen. Er dagegen arbeitet aus einer Fülle und einem Reichtum heraus, als sei der Tanz für ihn ein ständig expandierendes Universum, dem mit jeder Bewegung neue zufliegen.

Doch trotz der Unterschiede in den Temperamenten gewinnt „Alleine“ seine Kohärenz als Stück dadurch, dass sich beide Choreografen im Lapidaren und Beiläufigen entsprechen. Ihre Einsätze beginnen immer wieder von vorn, breiten Material aus, verknüpfen es neu. Nichts davon wird mit symbolischer Bedeutung oder Referenzen nach außen belegt. Alles bleibt unter diesen beiden. Das macht es zugleich so persönlich und so spröde. KATRIN BETTINA MÜLLER

„Alleine“ im Theater am Halleschen Ufer, 15.–19. Januar, 20 Uhr