Entscheidung gegen Justizwillkür

„Das System ist ungerecht, ungenau, unfähig, zwischen unschuldig und schuldig zu unterscheiden, und zum Teil auch rassistisch“ (Gouverneur Ryan)

aus Washington MICHAEL STRECK

Es war wie ein Prolog zu dem spektakulären Ereignis vom Samstag, das Gegner der Todesstrafe triumphieren und Befürworter erzürnen würde. Mitte vergangener Woche sorgte im US-Bundesstaat Maryland, dem zweiten Staat, wo neben Illinois die Vollstreckung der Todesstrafe durch ein Moratorium ausgesetzt ist, eine Studie der University of Maryland für Aufsehen. Kriminologen hatten 6.000 Mordfälle in Maryland untersucht und waren zu dem Ergebnis gekommen, dass die Rasse des Opfers eine entscheidende Rolle spielt bei der Frage, ob die Todesstrafe beantragt wird. Richter verhängen eher die Höchststrafe für schwarze Angeklagte, wenn sie weiße Personen umgebracht haben sollen.

Es ist nicht bekannt, ob der Gouverneur des Bundesstaates Illinois, George Ryan, diese Studie noch gelesen und sie seine letzten Zweifel ausgeräumt hat. Auf jeden Fall dürfte sie ihn in seinem Entschluss bestärkt haben. In einem Aufsehen erregenden und heftig umstrittenen Schritt hat Ryan am Samstag alle 167 in der Todeszelle des Staates sitzenden Häftlinge begnadigt. Die meisten Strafen wurden in lebenslange Haft umgewandelt. Es war die umfassendste Begnadigung seit der Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA 1977 – eine Entscheidung, gegen die Richter, Opferanwälte, Opferverbände und Betroffene nun Sturm laufen.

Bereits einen Tag zuvor hatte Ryan vier zum Tode verurteilte Männer begnadigt und drei von ihnen auf freien Fuß gesetzt. Die Männer hatten zwischen 12 und 17 Jahre im Gefängnis verbracht. Sie hatten erklärt, unschuldig und durch Folter zu Geständnissen gezwungen worden zu sein. Alle vier wurden in dem für seine Gewalt berüchtigten Polizeibezirk 2 von Chicago verhört, dessen Chef Jon Burge 1993 vom Dienst suspendiert wurde, da er mutmaßliche Mörder gefoltert haben soll.

Einer der begnadigten Männer ist Aaron Patterson, der wegen zweifachen Mordes angeklagt und verurteilt wurde. Er hatte ausgesagt, 1986 während eines 25-stündigen Verhörs durch Burge an eine Wand gekettet, geschlagen und mit einer Plastiktüte fast erstickt worden zu sein. Um die Folter zu beenden, habe er anschließend gestanden. Später zog er das Geständnis jedoch zurück. „Es ist ein gewaltiger Sieg“, sagte Pattersons Anwalt. Er stelle die skandalösen Zustände der Justizbehörden in Chicago bloß, die jahrelang unschuldige Personen in die Todeszelle geschickt hätten.

Gouverneur Ryan hatte seine Entscheidung während einer Rede an der Juristischen Fakultät der Northwestern University in Chicago bekannt gegeben, die über ein eigenes „Zentrum für Fehlurteile“ verfügt und sich besonders für die Überprüfung von Todesurteilen engagiert hatte. „Das System ist ungerecht, ungenau, unfähig, zwischen unschuldig und schuldig zu unterscheiden, und zum Teil auch rassistisch“, sagte Ryan.

Die spektakuläre Amtshandlung war auch zugleich die letzte des Gouverneurs. Heute endet seine Amtszeit. Gegner werfen Ryan vor, mit diesem Schritt von persönlichen Problemen ablenken zu wollen. Seit Monaten werden ihm Bestechung und Betrug vorgeworfen. Möglicherweise wird in der kommenden Woche ein Gerichtsverfahren gegen ihn eröffnet. Was auch immer dabei herauskommt – schon jetzt ist klar, dass Ryan nicht als der korrupte Gouverneur, sondern als mutiger Menschenrechtler in die Geschichte der USA eingehen wird.

Ryan, einst selbst Befürworter der Todesstrafe, wandelte sich im Laufe seiner Amtszeit zum energischen Kritiker. Vor drei Jahren stieg er zu internationalem Ruhm auf, als er erstmals ein Moratorium für alle Hinrichtungen in einem US-Bundesstaat verfügte, nachdem 13 Häftlinge aus der Todesszelle entlassen werden mussten, da sie irrtümlich verurteilt worden waren. Das Justizsystem sei voll Fehler und man riskiere, Unschuldige zu töten, sagte er bereits damals.

Um das System der Todesstrafe grundlegend zu überprüfen, berief Ryan eine hochrangige Expertenkommission ein. Im vergangenen April legte sie ihren Abschlussbericht vor und empfahl Reformen. Da das Parlament des Bundesstaates jedoch zögerte, diese zu beschließen, machte Ryan die Fälle aller Todeskandidaten zur Chefsache. Er bestand darauf, alle Urteile einzeln zu überprüfen, vor allem jene, in denen die Angeklagten behaupteten, unschuldig zu sein. Monatelang saß er selbst über den Akten und kam schließlich zu der Einsicht: „Ich will nicht länger an dieser Maschine des Todes beteiligt sein.“ Seiner Ansicht nach gibt es unter den gegenwärtigen Strukturen keine Garantie, dass eine unschuldige Person niemals zum Tode verurteilt wird. Dieses Dilemma konnte er nur lösen, indem er alle Verurteilten begnadigte.

So ist ausgerechnet ein konservativer Republikaner aus dem Mittleren Westen zum Hoffnungsträger im Kampf gegen die Todesstrafe geworden. Doch dass diese damit in den USA noch lange nicht vom Tisch ist, zeigt der Bundesstaat Maryland. Der dort neue gewählte republikanische Gouverneur hat bereits angekündigt, er werde das unter seinem demokratischen Vorgänger verhängte Moratorium nach seiner Amtseinführung diese Woche wieder aufheben.