Die Liebe in Zeiten des Zwangs

Mühsam locker: Am Deutschen Theater gibt es „Frühlings Erwachen“ mit jungen Schauspielern der Ernst-Busch-Schule

Liebe Kinder, ihr könnt es euch vielleicht heute nicht mehr vorstellen, aber es gab Zeiten, da standen explizite sexuelle Darstellungen weder in Schrift noch Zeichnung ausreichend zur Verfügung. Da konnte es passieren, dass ein Monolog von Othello aus einer Tragödie von Shakespeare alles war, was ein armer Junge hatte, um für seine „geschlechtliche“ Erregung eine Form zu finden. Sehr verwirrend war das und mörderisch. Mädchen starben mit 14 Jahren an illegalen Abtreibungen, Jungs erschossen sich aus Selbstekel, und wer das überlebte, kam in die Korrektionsanstalt.

Aus dieser finsteren Zeit stammt Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“, 1891 geschrieben, der Pornografie verdächtigt, zensiert, 1906 von Max Reinhardt an den Kammerspielen des Deutschen Theaters uraufgeführt und in den Zwanzigerjahren als Beitrag zur „Volksaufklärung“ programmatisch genutzt. Jetzt ist das Stück an den Ort seiner Uraufführung zurückgekehrt, von Ulrich Matthes, bisher als Schauspieler bekannt, inszeniert und mit elf jungen Schauspielern der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ besetzt. Das sieht nach einer sehr sinnvollen Koproduktion aus, die nicht nur den Nachwuchs fördert, sondern auch seine spezifischen Kompetenzen nutzen will.

Frühlings Erwachen 2003: Das stellt jede Inszenierung vor die Aufgabe, wie man den Abstand zwischen einer Zeit vermittelt, in der Psychologen, Lebensreformer und nicht zu vergessen Künstler die Decke der sexuellen Tabus gerade mal anhoben, und einer Gegenwart, die durch das Überangebot der Sexproduktion eigene Probleme hervorgebracht hat. Am einfachsten ist dies für das Programmheft zu bewältigen, durch Zitate von Slavoj Žižek oder Jean Baudrillard über die veränderte Ökonomie von Mangel und Begehren. Die Aufführung hingegen packt ihre Protagonisten zwar in Klamotten von heute, versucht sonst aber, sich um historische Differenzen herumzumogeln, indem sie auf jede Kontextualisierung oder soziale Verortung verzichtet.

So spielt „Frühlings Erwachen“ denn in einer Art white cube, gut ausgeleuchtet. Von den Rollen der Erwachsenen wurde gestrichen, was als Karikaturen des Wilhelminismus entbehrlich schien. Dafür aber gibt es jetzt kein Bild mehr für die, unter deren Druck die Jugendlichen stehen. Und deshalb glaubt man lange nicht, dass ihre Schuldgefühle sie so verflucht tief annagen und bis zur Selbstzerstörung auslaugen.

Die Schauspieler halten sich tapfer und geben dem Text ihr Bestes. Tatsächlich kommen sie mit den Monologen des Selbstzweifels, mit surrealen und fantastischen Passagen besser zurecht als mit den Szenen, die den Text Gruppenritualen der Teenager von heute anpassen wollen. Wie die Mädchen kreischen, wie sich die Jungs mit den Schultern vorwärts schieben und die Hände in den Taschen vergraben, ist schon ein bisschen schrecklich anzusehen. Die professionelle Lockerheit, mit der das Gripstheater oder das Theater Strahl solche Szenen angeht, wird hier als mühsame Arbeit sichtbar.

Und dennoch, Wedekind lohnt sich. Ganz am Anfang malt sich Moritz in einem libertären Traum aus, wie es wäre, Jungen und Mädchen, in kurze, weiße Tunikas gekleidet, zusammen aufwachsen zu lassen. Und während man noch darüber nachdenkt, wie dieser Ansatz noch Jahrzehnte brauchte, um zum gesellschaftlichen Konzept zu werden, wird einem auch bewusst, wie wenig diese Befreiung zugleich das Glück gebracht hat, das sich Moritz davon erhoffte. Die Zwänge haben sich verschoben, verschwunden sind sie nicht. KATRIN BETTINA MÜLLER

Wieder am 18., 19. und 31. Januar, jeweils 20 Uhr, in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, Schumann-str. 13 a, Mitte