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Marlene, die Dichterin

Die Grande Dame des Poetry-Slam? Jedenfalls die Älteste im reichlich juvenilen Vortrags-Zirkus! Durch Zufall geriet Marlene Stamerjohanns, 71, einst auf ihre erste Wettbewerbsbühne, kam auf Platz zwei und machte weiter. Die meisten ihrer Pokale hat sie zurückgegeben: Was zählt, ist noch da zu sein

AUS WILHELMSHAVEN BENNO SCHIRRMEISTER

Streng genommen verstößt es gegen die Regeln des Wettbewerbs. Aber sie kann’s nicht ändern: Immer wenn Marlene Stamerjohanns auftritt, singen einige, und in Bremen fast der ganze Saal: „Mar-lene, oho …“, und das natürlich – wer behauptet denn, die Freunde des Poetry-Slams wären zwangsläufig originell? – auf die Melodie dieses unverwüstlichen italienischen Schlagers: „Mar-lene, ohohoho …“, so als liefe ein neuer brasilianischer Wunderstürmer in ein Stadion ein. Dabei betritt da doch eine 71-Jährige aus Wilhelmshaven die Szene eines Kulturzentrums. Verschwindet halb hinter ihrer leicht getönten Brille. Knickt das Mikrofon ein Stück abwärts. Und trägt Verse vor. Eigene, versteht sich.

Poetry-Slams gibt es in Deutschland seit Anfang der 1990er, im Herbst finden die 11. deutschsprachigen Meisterschaften statt, in Zürich. Die Szene ist ausgesprochen juvenil: Wer nach dem Studium noch schreibt, lässt die Wettkampf-Dichtung meist hinter sich. Mittlerweile drängen mehr und mehr elternbegleitete Mittelstufenschüler auf die Kneipenbühnen. Es gilt, mit 5-Minuten-Rezitationen das Biergläserklirren zu übertönen, das Publikum zu bannen, die meisten Stimmen zu bekommen. Mal sind zehn, mal 200 ZuhörerInnen da. Knallige Komik geht oft am besten.

Ein pralles Leben gelebt

Marlene Stamerjohanns aber ist 71, sie hat ein pralles Leben schon gelebt, ist seit jeher ein politischer Mensch: Bei den Polit-Kunst-Happenings der 68er in Hannover war sie dabei, viel Haftentlassenen-Fürsorge hat sie gemacht. Sie kämpft gegen Rechtsradikale, das geplante Kohlekraftwerk in Wilhelmshaven bringt sie auf die Barrikaden, – vergebens? Ach, mag sein. Aber sie hat wenigstens gekämpft.

Sie macht sich Gedanken über dies, was ihr die Zeitung und das, was ihr der Fernseher ins Haus trägt, über Gentechnik, Irakkrieg, Tierversuche, „ich muss dazu etwas sagen“, sagt sie, „selbst wenn ich es nicht vollkommen verstanden habe“.

Sie zieht Eindrücke zusammen. Führt schräge Annahmen zu einem guten Ende. Sie dichtet. In „Adolf, wenn du eine Frau gewesen wärest“ imaginiert sie einen Lebenslauf mit vertauschten Geschlechterrollen: „Auch meine Mutter zog als Soldatin in den Krieg, / sie war groß blond und blauäugig / und gehörte zur Deutschen Damenrasse“. Und nach ihrem Tod an der Ostfront würde sie nun „auf dem Heldinnenfriedhof“ ruhen.

Zu den Auftritten fährt Stamerjohanns mit ihrem „Autochen“: In Wilhelmshaven gibt es keine Slam-Bühne – noch nicht, sie arbeitet dran. Aber selbst wenn: Mehr Bühnen, mehr Ansehen. „Ich habe noch 14 Sommer“, sagt sie. So lange will sie auch voll dabei sein. Möglichst überall. Also kutschiert sie nach Oldenburg, immer wieder nach Bremen, nach Hannover, nach Frankfurt. Aber nie über die Autobahn, immer stur über die Landstraße, als Beifahrerin ist manchmal das Dackelmädchen Kess dabei, von Wilhelmshaven nach Wismar, da ist sie diesmal Zweite geworden, von Wilhelmshaven nach Paderborn: Seit Herbst 2006 ist Stamerjohanns Ostwestfalen-Meisterin.

Sie fährt ganz gerne Auto, scheint’s. Auch beim Bahnhof ist sie mit dem blauen Twingo vorgefahren, obwohl man am Telefon doch besprochen hatte, die paar Meter durch den Stadtpark, die könne man doch locker gehen. Und es regnet ja nicht mal. Ursprünglich stammt Stamerjohanns aus dem Oldenburgischen. Das Erste was sie erzählt, ist, dass die Familie damals, bei Fliegeralarm, in Erdhöhlen untergekommen sei, tagelang, die Folge: Ohrenentzündungen, die nicht richtig behandelt wurden: „Ich höre schlecht“, sagt sie, „manchmal.“ Und schon brettert sie los, im ersten Gang bis knapp unter 40, der Bordstein wird großzügig mitgenommen, die Ampel! Oho! Springt gerade noch rechtzeitig auf Grün. Ihr Glück. Dackelmädchen Kess findet den Beifahrer, der da, ohne zu fragen, ihren Platz eingenommen hat, trotzdem in Ordnung, und hüpft ihm auf den Schoß.

Manche sagen „Rap-Oma“

„Die jungen Leute“, sagt Marlene Stamerjohanns, „lieben mich alle.“ Das ist übertrieben. Wahr aber ist: Stamerjohanns gehört zu denen, die von den Veranstaltern eingeladen werden und Fahrtgeld erstattet bekommen. Man kennt sie in der Szene. Sie hat eine Reihe von Spitznamen. Marlene Antistar, das war ihr eigener Vorschlag. Der hat sich nicht durchgesetzt. Manche sagen „Rap-Oma“, das überhört sie lieber. Und die meisten nennen sie schlicht Marlene.

Bas Boettcher zum Beispiel, der mit Abstand berühmteste Dichter aus dem Slam-Umfeld: „Die wahren Stars“, sagt er auf Anfrage, finde man „längst nicht mehr im Fernsehen“: Sie seien eben nicht sendeformatkompatibel. Für ihn persönlich sei „Marlene ein solcher Star“. Nur leider könne er sich „der Angelegenheit im Moment nicht widmen“. Dann schickt er doch noch einen netten Satz: „Ich habe großen Respekt vor Marlenes unkonventioneller Art, Ihr Publikum zu erreichen.“ Oho.

Man kann da auch eine gewisse Distanz raushören. Genauso, wenn Tobias Kunze über sie spricht: Kunze, der bald 26 wird, in Hannover-Linden kürzlich mit drei KollegInnen eine neue Slam-Bühne eröffnet hat, sagt nämlich auch: „An Marlene scheiden sich die Geister.“ Da sei etwa, dass sie Gedichte mit ernsten, echten Sujets macht, mit „ungewöhnlich politischen Themen, ohne dabei mit dem Zeigefinger zu wedeln“. Sich auf diesem Grat zu bewegen, das schaffe sie ganz locker – „an guten Tagen“.

Heißt: Es gibt auch schlechte. Manchmal verhindert der Tinnitus einen Auftritt. Manchmal stimmt der Rahmen nicht, dann ist sie selbst unzufrieden. Manchmal, sagt Kunze, „rutscht das sprachlich ab“: Dann klinge es wie „Hausfrauenlyrik“ und folge dem „Motto: Reim dich oder ich fress dich“. Das sagt also Tobi Kunze, der sich selbst einen „großen Fan von Marlene“ nennt. Und wenn sie auftritt, und er ist da, dann singt auch er immer mit: „Mar-lene, oho.“ Lustig.

Sie freut sich über Besuch, dem sie ihre Gedichte vortragen kann. Die sie liebt. Sie sitzt dann da, auf einem ihrer beiden über Eck gestellten Sofas, die nicht zusammenpassen, oder sie sucht die richtige Datei im Computer, um sie auszudrucken. Und lauscht dabei doch mehr in sich hinein. Und murmelt und memoriert und spricht dann, triumphal – eine Ballade: Die Geschichte von Donald Rumsfelds Besuch in Ostfriesland, der Heimat seiner Vorfahren. Oder das Poem von den vier Gefrierfachwaisen – überzählige, bei einer künstlichen Befruchtung entstandene Human-Embryonen – auf Wanderschaft. Oder auch das Gedicht über die Krebsmaus, ein Versuchstier, das, aus einem Pharma-Labor befreit, nun bei ihr lebe, ein Gewissen bekommen habe, und „viel lieber zu den Menschen hinüber“ wolle: „Jetzt hab ich schon meinen Kater erschossen / Sein Tiermehl in ihren Fressnapf gegossen / Jetzt wächst ihr am linken Ohr ein Ei / am rechten auch / das sind schon zwei“.

Die Verse nehmen an Fahrt auf: „Gestern Abend im Bett haben wir beide gewitzelt / So und du willst zum Slam, sagt sie / und hat mich mit ihren Eiern gekitzelt“. Stamerjohanns lacht, schaut ihren Zuhörer an. „Das ist doch gut, oder?“ Sie zündet sich eine Zigarette an.

Was für sie wichtig sei beim Dichten? Sie wolle halt „Texte auf die Spitze treiben und dann Spitzentexte schreiben“, schießt sie zurück, spontan klingt anders. Wieso die ständigen Wettbewerbe? Sie will gewinnen. „Ich wollte schon in der Schule immer die Erste sein.“ Ewiger Ruhm? Nein. Einen Lyrikband von ihr wird es nie geben. „Gedichte“, sagt sie, „gehören an die Klotüre.“ Was sie antreibt? „Missgunst und Ehrgeiz und Neid.“ Sie lacht, zündet sich wieder eine Zigarette an, „Nein, nein, nein“, ruft sie, „schreib das bloß nicht! Sonst sind die nachher alle sauer.“

Es ist noch gar nicht so lange her, da hatte Stamerjohanns ein Haus in Edewecht. Das hat sie verkauft, dann ist sie nach Wilhelmshaven gezogen, „das Meer“, sagt sie, „das Gefühl von Freiheit“, sechster Stock, „dann bin ich dem Himmel näher“, erläutert sie, „später einmal“. Der Tod ist eine feste Größe: Sie ist 71. Sie hat den Krieg erlebt. Da ist das doch normal, oder?

„Die hat sich doch vertan!“

Je nach Perspektive gibt es unterschiedliche Antworten, wie es anfing mit Stamerjohanns und dem Slam. Günter Kahrs, der den Künstlernamen Meister Propper trägt, wegen seiner Haare nämlich, organisiert seit bald 20 Jahren Bremens Slam-Bühnen. „Als Marlene das erste Mal in Bremen war“, erinnert er sich, „da dachte ich auch: Was will die hier? Die hat sich doch vertan!“ Es war eine Open-Air-Session. Sie trug Sommerkleid und einen breiten Hut, „als wollte sie zur Galopprennbahn“. Die Berufskleidung der Slammer sind Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Kein Hut. Am Ende hatte sie den Pokal in den Händen. Und ließ sich feiern.

Ihren allerersten Slam aber hatte sie noch ein paar Jahre früher im Schikaneder, einer Künstlerkneipe in Wien. Da war sie einfach mitgelaufen, mit ihrer Klasse von der Schule für Dichtung. Und hatte nicht richtig gehört, wo es hinging. Und konnte mit dem Wort Poetry-Slam auch gar nichts anfangen. Und stolperte ganz unvorbereitet mit einem rührend-witzigen Gedicht über eine Raupe auf Platz zwei. Wieso sie die Schule für Dichtung damals überhaupt besucht hat?

Ihr zweiter Mann war Maurer. Nach der Scheidung war sie lange solo gewesen, hatte sich als Heilpraktikerin selbständig gemacht. Dann haben sie sich kennen gelernt, damals in Edewecht. „Das war“, sagt sie, „Liebe auf den ersten Blick.“ In der Wohnung, am Glasschrank hängen Fotos: Die beiden, glückstrahlend stehen nebeneinander. Sie sitzen, zufrieden, an einem Frühstückstisch im Grün. „Vor 15 Jahren“, sagt Stamerjohanns, und sie waren wirklich noch nicht lange verheiratet, „ist er plötzlich gestorben.“ Fiel einfach um. Sie hat versucht, ein Instrument zu lernen. „Aber das konnte ich nicht.“ Schreiben, aber, das ging immer. „Schon in der Schule.“ Dann ist sie nach Wien gegangen.

Pokale im Schlafzimmer

Himmel, eine Ahnung vom Meer, Kriegsschiffe, der Stadtpark – das ist der Blick vom Balkon der Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Im Schlafzimmer stehen vier Pokale, „die meisten“, sagt sie, „habe ich zurückgegeben“, dann müssen die Veranstalter nicht immer neue kaufen. Und einer müsste noch – ach ja, im Bad. Sie kramt im Hängeschränkchen, holt Tuben hervor und Döschen. Und den Pokal. „Mar-lene!“ Kess ist mitgedackelt, lugt vorwurfsvoll unter dem Waschbecken hoch: Hunger. Der Napf steht in der Küche.

Die Erfolge sind wichtig nur im Moment des Erfolgs. Was zählt, ist auf der Bühne. Und die Stimmung im Saal. „Mar-lene, o-ho!“ Anerkennung. Das Gefühl: Dabei zu sein. Mittendrin. Getragen von der Liebe aller. Dazugehören. Nicht untergegangen zu sein, noch immer nicht. Und die Angst, das zu verlieren. „Wenn es irgendwo hieße: O weia, da kommt Oma Plüsch“, sagt Stamerjohanns, „dann würde ich da nicht mehr hingehen.“ Oder es nicht hören.

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