: Turnen gegen den Krebs
Alischer, der Sohn von Turn-Olympiasiegerin Oksana Tschusowitina, ist an Leukämie erkrankt. Damit er geheilt werden kann, muss seine Mutter vor allem eines tun: Weiter siegen und Preisgelder gewinnen. Denn die Behandlung kostet 120.000 Euro
aus Taschkent PETER BÖHM
Der Schock überfiel Oksana Tschusowitina letzten Oktober im südkoreanischen Pusan. Bei den Asien-Spielen hatte sie wieder einmal Gold im Pferdsprung gewonnen, nun befand sie sich auf dem Weg zurück nach Hause, als ihr ihr Ehemann die schlechte Nachricht am Telefon übermittelte: Alischer, Tschusowitinas dreijähriger Sohn, war ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Diagnose: Leukämie. Die 27-Jährige flog sofort nach Taschkent, wo sie der postsowjetische Alltag in seiner härtesten Ausprägung in Empfang nahm: Die Ärzte in der usbekischen Hauptstadt sagten der jungen Mutter ganz unverblümt, dass ihr Sohn bei ihnen keine Überlebenschance habe; in zwei Krankenhäusern in Moskau hätte die Turnerin erst 8.000 bzw. 16.000 Dollar bar auf den Tisch blättern müssen, bevor ihr Sohn auch nur aufgenommen worden wäre.
Nur gut, dass in der Zwischenzeit Tschusowitinas Trainerin Swetlana Kusnetsowa in Deutschland vorgefühlt hatte, wo ihr Schützling seit 1996 für Toyota Köln turnt und seitdem viermal die deutschen Mannschaftsmeisterschaften gewonnen hat. Der Verein erklärte sich bereit, eine Bürgschaft von 20.000 Euro abzugeben, und half so, Tschusowitinas Sohn einen Platz in der Uniklinik Köln zu beschaffen. Seitdem gibt es ein Spendenkonto für Alischer, und es vergeht kaum ein internationales Turnfest, auf dem nicht für das Kind gesammelt wird. Denn Tschusowitina muss alles in allem 120.000 Euro auftreiben, so viel wird die Behandlung ihres Sohnes verschlingen.
Dafür, dass sie eine solche Last mit sich herumschleppen muss, wirkt die Turnerin erstaunlich gelöst. Nachdem sie zwei Wochen bei ihrem Sohn in Köln verbracht hatte, ist sie zum orthodoxen Weihnachtsfest zurück nach Taschkent geflogen, im Gepäck ein dickes Bündel mit Kinderfotos: Alischer auf dem Bett, Alischer mit Baseballmütze im Gang vor seinem Krankenzimmer, Alischer vor dem Fernseher. Aber Oksana Tschusowitina weiß, dass sie, wenn sie ihrem kleinen Liebling helfen möchte, jetzt nicht resignieren darf. Denn am besten ist es für Alischer, wenn seine Mutter einfach weiter siegt – und immer wieder von neuem die Geschichte ihres todkranken Kindes erzählt. Deshalb hat sie am Morgen schon wieder angefangen zu trainieren. Mitte Januar wird sie bei den WOGA Classics in Texas sein, danach bei einem anderen Turnfest. Und wenn alles gut geht, wird sie in ein paar Monaten die 120.000 Euro zusammenhaben.
Sich über ihr Schicksal zu beklagen, kommt Oksana Tschusowitina nicht in den Sinn. Dass eine Sportlerin, die 1992 mit der Mannschaft der GUS Olympiasiegerin wurde und seit mehr als zehn Jahren in der Weltspitze turnt, nun zur Bittstellerin geworden ist, scheint ihr nicht weiter bemerkenswert. Sie sagt: „Ich empfinde es als großes Privileg, dass ich durch meine Bekanntheit in der Turnwelt die Möglichkeit habe, meinem Kind zu helfen.“ Dass sie für ihre sportlichen Leistungen in Usbekistan kaum Anerkennung findet? Dass sie, die erfolgreichste Sportlerin des Landes, von offizieller Seite keine Unterstützung bekommt? „Trotzdem bin ich stolz, dass ich Usbekistan in der Welt bekannt gemacht habe“, sagt sie.
Dabei ist es mehr ein Zufall, dass sie Usbekin ist und für Usbekistan startet. Denn Oksana Tschusowitina ist ein typisches Kind der Sowjetunion. Zwar wurde sie in Buchara geboren, dem historischen Sitz des usbekischen Kalifats, aber ihr Vater ist Russe, ihre Mutter aus dem Kaukasus und sie selbst mit einem Usbeken verheiratet. Als 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, blieb sie einfach dort, wo sie war, und machte, was die anderen Usbeken auch taten: auf den Trümmern der untergegangenen Sowjetunion weiterleben.
Nirgendwo kann man das deutlicher sehen, als in der Turnhalle des usbekischen Olympischen Zentrums in Taschkent. Dort trainiert Oksana Tschusowitina seit sie sieben ist. Die Halle liegt in Chilonzor, einer der heruntergekommenen Satellitenstädte der Hauptstadt. Auf dem Weg in den zweiten Stock kommt man vorbei an Räumen, die mit Müll und alten Schulmöbeln vollgestopft sind. In der Halle selbst stehen die Geräte so dicht beieinander, dass nicht mehrere Athleten gleichzeitig turnen können. Der neue Stufenbarren wurde nach einer Spendenaktion vom „Offiziellen Fanclub des Teams Usbekistan“ in Long Beach, Kalifornien, gespendet, weil der alte so verrostet und verzogen war, dass man keiner Athletin mehr zumuten konnte, daran zu trainieren. Wenn die Turnerinnen ein neues, schwieriges Element einstudieren wollen, sind sie darauf angewiesen, dass ihnen jemand ein Trainingslager in einer Halle sponsert, in der es eine Grube mit weichen Matten gibt, damit sie sich beim Stürzen nicht das Genick brechen.
Dass Oksana Tschusowitina trotz dieser Bedingungen mehrfache Einzelweltmeisterin geworden ist, liegt schlicht daran, dass sie eine Ausnahmeerscheinung im Frauenturnen ist. Dass sie mit 27 Jahren immer noch mit den durch die Luft wirbelnden Kindern mithalten kann, ist einzigartig. Sicher hilft ihr ihre Physis dabei: Tschusowitina ist nur 1,50 Meter groß und gebaut wie eine 14-Jährige; wenn alles nach Plan verläuft, wird sie 2004 in Athen an ihren vierten Olympischen Spielen teilnehmen, als erste Turnerin überhaupt.
Die 27-Jährige sagt völlig zu Recht: „Ich habe bewiesen, dass Turnerinnen durch ihren Sport keine Invalidinnen werden müssen. Dass sie Kinder haben und ein ganz normales Leben führen können.“ Oksana Tschusowitina ist die Doyenne des Frauenturnens. Es hilft ihr vielleicht, ihrem Sohn das Leben zu retten.
Spendenkonto: GYMmedia GbR, Deutsche Bank, Bankleitzahl 100 700 24, Kontonummer 47 22 112, Stichwort: Gymnastics for Alischer