AUCH ARABER UND TÜRKEN GEMEINSAM KÖNNEN BUSH NICHT STOPPEN
: Nachdenken über die Nordfront

Noch sind die ersten 100 Tage der neuen türkischen Regierung nicht rum, da steuert die Mannschaft um Tayyip Erdogan, Chef der Regierungspartei, und Ministerpräsident Abdullah Gül auf ihre erste schwere Krise zu. Noch vor einer neuen Entscheidung im UN-Sicherheitsrat, also vor einer weitgehenden Festlegung der internationalen Gemeinschaft, in die man sich einreihen könnte, muss die türkische Regierung nun entscheiden, wie sie sich bei einem Angriff der USA auf Saddam Hussein verhalten soll. Nach der Debatte um den EU-Beitritt ist dies nun die zweite, zumindest kurzfristig noch gravierendere Entscheidung, der sich die noch unsichere Regierung stellen muss.

Wären sie in der Opposition, hätten weder Erdogan noch Gül ein Abwägungsproblem. Genau wie ihre Wähler und ihre Partei sind sie gegen einen Krieg. Als Regierung müssen sie entscheiden, wieweit die Türkei es sich leisten kann, ihren wichtigsten einzelnen Verbündeten vor den Kopf zu stoßen. Reicht es, ebenfalls Druck auf Saddam zu machen, aber sich auf diplomatische Mittel zu beschränken? Ist es genug, den USA im Kriegsfall Flugplätze und Häfen zu öffnen? Oder muss man selbst der Stationierung von US-Truppen zustimmen? Soll ausgerechnet eine Regierung, die aus einer islamischen Tradition kommt, zum ersten Mal in der Geschichte der Republik fremden Bodentruppen erlauben, von ihrem Boden aus ein islamisches Nachbarland anzugreifen?

Erdogan und Gül wissen, dass eine falsche Entscheidung zu einem jähen Ende ihrer Regierung führen kann. Geben sie den Amerikanern zu weit nach, könnte ihre eigene Basis ihren Kopf forden; brüskieren sie dagegen Mr. Bush, werden die USA, außer dass sie den Irak trotzdem angreifen, auch noch den Geldhahn für die darbende türkische Wirtschaft zudrehen.

Wenn sie es nicht vorher schon gewusst haben, so dürfte Gül nach seiner Reise durch die arabischen Nachbarstaaten klar geworden sein, dass auch Araber und Türken gemeinsam nicht in der Lage sein werden, Bush wirklich zu stoppen. Deshalb geht es jetzt um Schadensbegrenzung in jeder Richtung. Den eigenen Anhängern hat Gül signalisiert: Wir haben alles versucht, einen Krieg zu verhindern. Gegenüber den USA muss er nun deutlich machen, bis wohin der innenpolitische Spielraum reicht. Auch Bush muss sich nun überlegen, ob ein militärischer Vorteil es wert ist, die einzige demokratisch gewählte, westlich orientierte, islamisch grundierte Regierung womöglich wieder zu stürzen, bevor sie noch die kleinste Chance hatte, ihre mögliche Modellfunktion überhaupt zu entwickeln. Falls Bush über solche Fragen überhaupt nachdenkt. JÜRGEN GOTTSCHLICH