Ich bin das Volk


von DOMINIC JOHNSON

Er liebt die ausladende Geste, das laute Wort vor großem Publikum. Wenn Laurent Gbagbo vor Zuhörer tritt, ist das eine Aufforderung zum Kampf. Mit realen oder imaginären Gegnern tritt er zum Wortduell an, fixiert sie mit den Augen und erledigt sie mit Rhetorik. Bruchlos kann er in Wahlkampfreden von Appellen für mehr soziale Gerechtigkeit in Tiraden gegen Fremde und Schmarotzer gleiten. Er kann mit treuem Augenaufschlag den allergrößten Unsinn erzählen und dann komplizenhaft grinsen, so als wolle er sagen: Ihr wisst, dass das Gesagte nicht stimmt, ich weiß, dass ihr es wisst, und ihr wisst, dass ich das weiß – aber niemand sagt es so schön wie ich, und außerdem gibt es keine Alternative.

Manchmal wird er dann laut und frech, ein Aufschneider, der sich selbst als Präsidenten spielt. So jemand kann nicht Präsident sein, sagen seine Gegner. Genau so jemand muss unser Präsident sein, erwidern seine Freunde, denn er verkörpert all unsere Unvollkommenheiten, unser zwiespältiges Verhältnis zur Elfenbeinküste, diesem Land mit dem komischen Namen aus der Zeit des vorkolonialen Überseehandels. Und genau um die Frage, ob Gbagbo Präsident bleiben kann, geht es ab heute, wenn hinter verschlossenen Türen irgendwo auf dem französischen Land die Kontrahenten des ivorischen Bürgerkrieges über Frieden reden sollen, „im Dayton-Stil“, wie es seitens der französischen Gastgeber heißt.

So etwas liegt ihm eigentlich nicht. Für Paläste und Schmeicheleien ist Gbagbo nicht geschaffen. Gbagbo sucht sich Feinde, um nach oben zu arbeiten. Seine Politik lebt vom Handeln seiner Gegner. In den 70er- und 80er-Jahren prägte ihn sein Leid in Gefängnis und Exil. In den 90er-Jahren musste er sich von politischen Rivalen abgrenzen und aus der vielfältigen, multikulturellen ivorischen Bevölkerung den Teil herausschälen, der ihm bedingungslos ergeben sein würde.

Kaum jemand glaubte noch an Laurent Gbagbo, als er am 22. Oktober 2000 für seine sozialistische „Ivorische Volksfront“ (FPI) bei einer Wahl kandidierte, die wie maßgeschneidert auf den damaligen Militärherrscher Robert Guei zugeschnitten schien. 7 von 13 Kandidaten waren ausgeschlossen, der Wahlablauf lag in den Händen der Armee, und die erklärte Guei schließlich zum Sieger, obwohl er verloren hatte. Da aber geschah das Unerwartete: Das Volk wehrte sich. Hunderttausende betrogene Wähler der FPI marschierten aus den Slumvierteln Abidjans ins Stadtzentrum, geführt und ermutigt von der Gendarmerie, der mächtigsten bewaffneten Kraft im Land. „Wir sind das Volk“, riefen sie und schwenkten ivorische Fahnen. Am Nachmittag des 25. Oktober bestieg Guei das Flugzeug ins Exil.

Alles anders, alles besser

Dies war die Revolution, die Stunde Laurent Gbagbos. Jetzt war er endlich der, für den er sich schon immer gehalten hatte: der Mann des Volkes, der die korrupte Elite hinwegfegt und die marode Elfenbeinküste dank der Tatkraft ihrer Bürger voranbringt.

Es sollte alles anders werden und alles besser. Als Erstes traf Gbagbo Maßnahmen gegen Personenkult: Sein Bild sollte nicht wie das seiner Vorgänger in allen Amtsstuben hängen, sein Tagesablauf nicht mehr die Hauptmeldung der Fernsehnachrichten bilden. Anders als seine Vorgänger hat er sich nicht persönlich bereichert und auch nicht versucht, sein Geburtsdorf zur Großstadt auszubauen. Damit blieb er den Grundsätzen seiner Partei treu, die sich als Alternative zum Neokolonialismus und der servilen Frankophilie des früheren ivorischen Establishments sieht. Die Volksfront, in Gbagbos Pariser Exil ab 1982 konzipiert und 1988 offiziell bei einem Untergrundkongress in der Elfenbeinküste gegründet, versprach eine neue Wirtschaftsordnung, ein neues nationales Selbstverständnis, kostenlose Bildung und Gesundheit – lauter Träume, um die herum sich alle möglichen Unzufriedenen scharten, als Anfang der 90er-Jahre das Einparteiensystem fiel und die Partei den Marsch durch die Institutionen antreten konnte.

Vom Volk an die Macht getragen, verdankt Gbagbo seinen Triumph im Oktober 2000 sicher nicht der Ideologie seiner Partei. Zu diesem Zeitpunkt ist er eigentlich nur noch Populist, für seine Fans faszinierend und für seine Feinde abstoßend. 57 Leichen in einem Massengrab im Abidjaner Stadtteil Yopougon, Opfer der Gbagbo-begeisterten Gendarmerie bei Pogromen am Tag seiner offiziellen Amtseinführung, zeigten zusammen mit hunderten weiteren Toten das böse Gesicht des Volkswillens. Die Anhänger der nicht zur Wahl zugelassenen Politiker, allen voran Expremierminister Alassane Dramane Ouattara, waren nach Gbagbos Aufstand selbst zum Protest angetreten und wurden niedergemetzelt, weil sie das Bild der neuen Demokratie störten. Die Massaker waren Ausdruck einer Politik, von der sich Gbagbo nie distanziert hat – nämlich der Wahrnehmung, wonach die wahre ivorische Nation kleiner ist als die ivorische Bevölkerung, in der ein Viertel der knapp 16 Millionen Einwohner Bürger anderer Länder Westafrikas sind und etwa die Hälfte zu Ethnien gehört, die es auch in Nachbarländern gibt.

Nicht jeder darf Ivorer sein

„Wir sind das Volk“, bezieht sich für Gbagbo nur auf die Angehörigen dieser kleinen, wahren ivorischen Nation. „Es kann nicht jedermann ein Ivorer sein“, schrieb erst am vergangenen Samstag wieder einmal Gbagbos Parteizeitung Notre Voie. „Wo leben wir denn, wenn die Ausländer keine Ausländer mehr sein wollen?“ Es war die Erfüllung einer Forderung der FPI, dass bei der Einführung des Mehrparteiensystems 1990 Ausländer das Wahlrecht verloren, und die Partei protestierte auch nicht, als 1998 das Bodenrecht geändert wurde. Seither dürfen Immigranten das von ihnen bearbeitete Land nicht mehr besitzen und vererben.

Die FPI ist eben nicht das, für das sie sich hält – eine moderne sozialistische Volkspartei. Wie viele nach außen progressive Parteien Afrikas stützt sie sich auf zutiefst rückschrittliche Loyalitäten. Ihre Wählerbasis ist die Ethnie ihres Führers, das Bété-Volk im Westen des Landes. Ein Großteil der neueren ivorischen Geschichte ist die Geschichte der Ausdehnung der Macht der Kakaobarone des zentralivorischen Volkes der Baoulé, zu denen Nationengründer Felix Houphouet-Boigny gehörte. Anstelle der Kleinbauernwirtschaft der Bété entstanden im Westen Kakaoplantagen im Baoulé-Besitz, auf denen Immigranten arbeiteten. Das alte Prinzip Houphouet-Boignys – „das Land jenen, die es bearbeiten“ – sicherte den Einwanderern ihre Rechte, war aber aus Bété-Sicht eine Enteignung. Plantagenbarone und Immigranten sind also für die FPI zwei Seiten einer gleichermaßen abgelehnten kapitalistischen Großbauernwirtschaft.

So sind Gbagbos Klientel und Ausstrahlung mit jener Robert Mugabes in Simbabwe vergleichbar. Nur die Folgen sind andere. Anders als Mugabe hat Gbagbo seinen Laden nicht zusammengehalten. Gbagbo braucht die Polarisierung. Der Zwang, Feinde zu suchen, um gegen sie agitieren zu können, brachte ihn im Laufe der Jahre dazu, immer mehr Freunde zu verstoßen. Schließlich war Robert Guei, den er 2000 am Wahlbetrug hinderte, den er dann mit Versprechungen freien Geleits zur Rückkehr aus dem Exil bewog und den die Gendarmerie zu Beginn des Bürgerkrieges 2002 umbrachte, früher ein heimlicher Sympathisant des Sozialisten. Schließlich war Guillaume Soro, politischer Führer der rebellierenden Militärs, die seit 19. September unter dem Namen „Patriotische Bewegung der Elfenbeinküste“ (MPCI) die Nordhälfte des Landes beherrschen, einst zusammen mit Gbagbo im Untergrund aktiv.

Gbagbo hat in seiner Laufbahn viele verprellt und viel Vertrauen verspielt. Er tut viele widersprüchliche Dinge und manchmal das Gegenteil dessen, was er versprochen hat. An einem Tag sagt er Frankreichs Außenminister Waffenruhe zu, am nächsten lässt er Söldner im Hubschrauber Tiefflugangriffe auf Marktplätze fliegen. Den Großteil des Jahres 2001 verbringt er mit einer Versöhnungskonferenz, auf der er seine Gegner umarmt, und dann setzt er die Konferenzbeschlüsse nicht um.

Es stimmt, dass seine Regierung eine Reihe von Wahlversprechen umgesetzt hat, zum Beispiel kostenlose Lehrmittel an Schulen, den Aufbau einer Krankenversicherung, die Dezentralisierung der Verwaltung. Aber sein Grundproblem als Präsident hat Gbagbo nie begriffen. Er sieht sich als gewählter Staatschef – offizielles Wahlergebnis: 59,4 Prozent – während seine Gegner die Wahl illegitim nennen; nur 20 Prozent der eingetragenen Wähler gaben für ihn die Stimme ab, die meisten gingen gar nicht zur Wahl. Dass er bei den anderen 80 Prozent Überzeugungsarbeit leisten müsste, sieht er nicht ein. Er begreift seine Leistungen als Offensivwaffen. Wenn er über seine Bilanz redet, klingt er, als wolle er beweisen, wie recht er doch habe und wie unrecht seine politischen Rivalen. Seit einige davon zur Gewalt greifen, teilt er das Land in Gut und Böse. Es gibt die loyalen Ivorer, und es gibt Terroristen, Angreifer, Verräter und deren Komplizen.

Unfähig als Friedensstifter

Weil er alle Gegner in einen Topf wirft, können Rebellen und Oppositionelle sich um eine einfache Forderung scharen: Gbagbo muss weg. Ginge es nicht um die Person Gbagbo, wäre eine Friedenslösung für das Land vermutlich einfach. Es ginge darum, die Diskriminierung von Migranten zu beenden und endlich eine Wahl zu veranstalten, bei der jeder antreten darf, der will. Weil jedoch niemand dem Präsidenten der Elfenbeinküste zutraut, getroffene Vereinbarungen umzusetzen, wird jedes Abkommen Makulatur bleiben, das von Gbagbos gutem Willen abhängt.

Wie wenig Freunde Gbagbo noch hat, weiß er wohl selbst. „322.000 Quadratkilometer hatte die Elfenbeinküste, als ich sie übernahm – mit 322.000 Quadratkilometern will ich sie hinterlassen“, rief der Präsident in seiner Neujahrsansprache 2003. Was für ein bescheidenes Ziel für einen Revolutionär.