Stillgelegte Wörter

Autor und DJ Andreas Neumeister entfernt sich von der erzählenden Literatur. Lesen wird er trotzdem

„Die Vortäuschung falscher Tatsachen kann eindeutig kein Straftatbestand sein, allenfalls das Vortäuschen richtiger Tatsachen, was eben dem Vortäuschen von Tatsachen entspricht, kann unter Umständen ein Straftatbestand sein.“ Das ist, vielleicht, die zentrale Stelle in „Angela Davis löscht ihre Website“.

So heißt das neue Buch von Andreas Neumeister. Er wurde 1959 geboren, gehört aber mit seinen Texten mitten hinein in das, was man, vielleicht, jüngere deutschsprachige Literatur nennen könnte.

Die zentrale Stelle also. Es gehört zur Grundidee dieses irgendwas aus Text, dass wir nicht sicher sein können, dass jene Sätze von dem stammen, dessen Name auf dem Cover steht. Nicht, dass Neumeister ein Phantasieprodukt wäre. Er ist ein real existierender Autor.

Nur weiß man eben nicht, ob das, was in „Angela Davis löscht ihre Website“ zu lesen ist, von ihm auf- oder abgeschrieben wurde, ob er es aus- oder mitgedacht hat. Das Textgebilde versammelt Abschriften, immer wieder in nicht durchschaubarem Maße bearbeitet. Eine Collage vielleicht. Das Vortäuschen von Tatsachen –falschen oder richtigen, wer weiß das schon so genau– wird Gestaltungsprinzip.

Nicht zufällig kommt alles sehr musikalisch daher. Und so eignet sich dieses Buch, das manchmal wirkt, als wolle es kein Buch mehr sein, eben doch zum Vortrag. Neumeister treibt hier weiter, was seinen Texten immer schon eigen war. Nach „Gut laut“ und dem „Version 2.0“ betitelten Remix dieses Romans sind ihm die Figuren abhanden gekommen. Oder er hat sie ziehen lassen. Mit einem Lächeln auf den Lippen. Vielleicht.

Übrig bleibt Fragmentarisches. Nicht ganz neu, dieser Gedanke in der Literatur. Doch sind die Gegenstände, denen sich Neumeisters Text widmet – und derer er sich bedient – nicht im Raster „alt/neu“ zu fassen.

Das hat sicher, ja, komm, sag‘s endlich… Sicher hat das auch damit zu tun, dass es hier um Pop geht. Pop als Musik. Pop als Kultur. Pop als Konglomerat von Ereignissen, sprachlichen, politischen, kulturellen.

Hier zählt niemand Plattentitel auf, um seine Jugend zu unterstreichen. Pop ist Bauprinzip: Vortäuschung von Tatsachen. Wenn in „Angela Davis löscht ihre Website“ seitenlang Abkürzungen zitiert und in Listen aufgelöst werden, will der Text etwas von uns. Aber er verrät uns nicht was: Neumeister erklärt nicht altväterlich.

Darum darf eine Aufzählung wie die genannte auch langweilen. Weil sie auf Langeweile referiert. Auf Langeweile - im Fernsehen, im Internet, in Gesprächen, die alles will, bis auf eins. Dass man nämlich merkt, wie leer und langweilig das alles ist. Hört sich merkwürdig an, oder?

Das Buch ist aber auch merkwürdig. Mitunter nimmt der Text den Worten, den tausendmal gehörten und gelesenen Formulierungen durch Wiederholung, Modifikation, Bedeutungsverschiebung ihre Geschwindigkeit. Aber auch ihre Selbstverständlichkeit. Sie werden stillgestellt. Auf dass man nachdenken möge. Endlich wieder nachdenken! Der Ausgang bleibt zwangsläufig ungewiss. Und das würde, unter Umständen, einen Straftatbestand erfüllen

Tim Schomacker

Andreas Neumeister liest morgen um 22.30 Uhr im Brauhauskeller des Bremer Theaters