Ein EU-Chef mehr oder weniger

Bis zum festlichen Diner im Élysée-Palais hatten deutsche und französische Politiker über eine Dreierspitze für die künftige Europäische Union beraten

„Der Pariser Kompromiss wird zu Machtlosigkeit und einer Legitimationskrise der EU führen“

aus Paris DOROTHEA HAHN

Ein Doppelkopf soll es werden: Zwei PräsidentInnen – eine(r) an der Spitze der Kommission und eine(r) an der Spitze des Rates – sollen die Geschicke der künftig 27 Mitglieder starken EU leiten. Auf diesen Kompromiss einigten sich die Spitzenpolitiker der beiden größten EU-Länder am Dienstagabend beim Diner im Élysée-Palast. Gestern reichten Jacques Chirac und Gerhard Schröder ihren Vorschlag an den EU-Konvent weiter. Der soll ihn jetzt in eine europäische „Verfassung“ einbauen. Und mit den Interessen der KritikerInnen aus kleineren EU-Ländern abstimmen.

Nach dem deutsch-französischen Kompromissvorschlag soll der künftige Kommissionspräsident vom Europaparlament gewählt werden. Der Ratspräsident hingegen soll von den Ratsmitgliedern, also den Staats- und RegierungschefInnen der Mitgliedsländer, bestimmt werden. Und zwar für zwei mal zweieinhalb beziehungsweise einmal fünf Jahre. Damit soll die bisherige Rotation der Ratspräsidentschaft im Sechsmonaterhythmus abgeschafft werden. Schließlich wollen Berlin und Paris die Außenpolitik auf eine einzige Person übertragen; über sie soll mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt werden.

Details über die Zuständigkeiten der Doppelkopfpräsidenten, über ihre jeweilige Macht und über etwaige Konkurrenzen wurden in Paris nicht bekannt gegeben. Wohl aber erklärte Gastgeber Chirac nach dem Diner: „Jeder hat einen Schritt auf den anderen zugemacht.“ Und fügte hinzu: „Einmal mehr hat sich bewiesen, wie gut der deutsch-französische Motor funktioniert.“

Ein gemeinsamer deutsch-französischer Vorschlag schien lange unwahrscheinlich. Denn die institutionellen Vorstellungen der beiden Länder liegen weit voneinander entfernt. Frankreich setzt – parteiübergreifend – auf ein Europa der Nationen, in dem die gewählten nationalen Regierungen eine zentrale Rolle spielen. Deutschland verteidigt – ebenfalls parteiübergreifend – ein föderalistisches Modell, bei dem die EU-Kommission und auch das Parlament gestärkt werden sollen.

Der beim Diner in Paris entwickelte Doppelkopfvorschlag versucht den Spagat zwischen beiden Vorstellungen. Der Kompromiss kam im letzten Moment zustande. Noch 24 Stunden zuvor hatten Schröder und sein Außenminister in Berlin vor einer eigens aus Paris eingeflogenen Gruppe von französischen JournalistInnen erklärt, angesichts der unterschiedlichen nationalen Vorstellungen laufe es vermutlich auf eine dreiköpfige EU-Präsidenz hinaus. Am selben Abend attackierte Regierungschef Jean-Pierre Raffarin die Wirtschaftspolitik der deutschen Regierung als „zu brutal“. Beim Diner in Paris war Kritik am Partner dann aber nicht mehr angesagt. Vielmehr kündigten Chirac und Schröder an, dass sie auch in der vergrößerten EU noch die Rolle des „Motors“ spielen wollen.

In der kommenden Woche finden in Versailles und Berlin Jubelfeiern aus Anlass des 40. Jahrestags der Freundschaft statt, die am 22. Januar 1963 von Adenauer und de Gaulle mit einem Vertrag besiegelt wurde. Zu diesem Anlass hatten die beiden Regierungen bereits seit längerem einen gemeinsamen Vorstoß zur Frage der institutionellen Ordnung der EU angekündigt.

In Frankreich äußerte gestern zuerst die proeuropäischste aller Parteien, die föderalistische UDF, ihre Kritik am Doppelkopf. Ihr Chef François Bayrou nannte ihn gegenüber dem Fernsehsender LCI „verantwortungslos“. Eine „Legitimitätskrise“ sei darin ebenso vorprogrammiert wie die künftige politische „Machtlosigkeit“ der EU. „Nicht jeder Kompromiss ist gut“, sagte Bayrou. Später am Tage wiesen andere französische Politiker auf die schlechten eigenen Erfahrungen mit „Kohabitationen“ hin. Dabei haben sich in den letzten Jahren oft konkurrierende Präsidenten und Regierungschefs gegenseitig lahm gelegt.

Die französische Öffentlichkeit erfuhr von dem Kompromiss ohnehin wenig. Bei ihrer Berichterstattung über das Diner im Élysée konzentrierten sich die französischen Medien vor allem auf die Frage von Krieg und Frieden im Irak. Chirac und Schröder bestätigten, dass sie an einer zweiten Abstimmung des UN-Sicherheitsrats vor einem etwaigen Krieg festhalten. Ein gemeinsamer deutsch-französischer Vorstoß allerdings, von dem manche in Paris in den vergangenen Tagen laut geträumt hatten, wird nicht zustande kommen.