Die „Abart des Fußballs“ sucht ihre Chance

Am Montag beginnt die Handball-WM. 25 Jahre nach dem Titelgewinn ist Deutschland voller Hoffnung

BERLIN taz ■ Nur ein Mal, ein einziges Mal, konnten es die deutschen Handballer für kurze Zeit ihrem älteren, größeren und ungleich stärkeren Bruder zeigen: Vor exakt einem Vierteljahrhundert in Kopenhagen, als Joachim Deckarm, Heiner Brand & Co. unter Bundestrainer Vlado Stenzel mit 20:19 gegen die hoch favorisierten Sowjets siegten und zu gefeierten Weltmeistern wurden. „Dieser Erfolg damals“, sagt Handball-Historiker Fritz Fischer, „hat einen Aufschwung wie nie ausgelöst“, Zuschauer und Mitgliederzahlen stiegen. Womöglich lag das auch daran, dass in diesem Jahr 1978 der große Bruder Fußball bei der WM in Argentinien schwer schwächelte, als er mit dem 2:3 in Cordoba gegen Österreich sein größtes Desaster seit Jahrzehnten erlitt und in eine veritable Krise schlitterte.

Doch nun, da am Montag die Handball-WM in Portugal beginnt, kann diese Sportart nicht von einem Niedergang deutscher Fußballkunst profitieren. Im Gegenteil: Nie war die Beliebtheit des großen Bruders ausgeprägter, nie war er in den Medien und Köpfen präsenter, nie war es so schwer für andere Sportarten, überhaupt von sich reden zu machen. Und das, obwohl der deutsche Handball „momentan von einer euphorischen Stimmung getragen wird“, wie Fynn Holpert findet. Der Manager vom Bundesliga-Primus TBV Lemgo nennt die positiven Indikatoren. Wirtschaftlich: Die zuletzt überaus positive Zuschauerentwicklung, die verbunden ist mit dem Bau großer, moderner Hallen wie der Kölnarena. Sportlich: Den Champions-League-Titel des SC Magdeburg im letzten Sommer, und die deutsche Liga ist unbestritten die beste der Welt. Öffentliche Aufmerksamkeit: die guten Quoten im Fernsehen etwa, die für Holpert „überragenden“ 3,2 Millionen Zuschauer beim letzten EM-Finale, das die Deutschen in der Verlängerung gegen Schweden verloren. „Wenn wir nun das Finale erreichen“, ist sich Holpert sicher, „dann ist auch diese WM wieder eine große Chance.“

Doch was geschieht, wenn die deutsche Nationalmannschaft, stark geschwächt durch Ausfälle von enorm wichtigen Rückraumakteuren wie Daniel Stephan und Frank von Behren, vorzeitig scheitert? „Selbst wenn das nicht so toll wird in Portugal“, sagt dazu Carsten Sauer vom VfL Gummersbach, „brauchen wir wirklich nicht das Jammern anzufangen.“ Wie Managerkollege Holpert findet er vor allem positiv, dass nun, nach Jahren der Abwesenheit, „endlich wieder die öffentlich-rechtlichen Sender übertragen“ – und so Handball wieder einem breiterem Publikum näher bringen werden. „Das ist gut für die Bundesliga“, so Sauer, der sich natürlich auch über einen Erfolg der Nationalmannschaft freuen würde, schließlich „färbt dieser Glanz ja auch auf uns ab“.

Gleichwohl ist der deutschen Handballszene klar, dass die Dominanz des Fußballs in Deutschland nie gebrochen werden kann. Diesen ungleichen Konkurrenzkampf um die Zuschauergunst hat es indes immer schon gegeben. Handball nämlich wurde 1917 vom Berliner Turnfunktionär Max Heiser entwickelt, um dem aus England stammenden Fußball, der damals immer mehr Anhänger fand, ein „deutsches Spiel“ entgegenzusetzen. Zunächst war es als körperloses Spiel gedacht und ausschließlich für Frauen. Zwei Jahre später modifizierte dann Sportlehrer Carl Schelenz, wie er später in einem Rückblick schrieb, diese ersten Regeln „mit dem Ziel, dem Spiel einen männlichen Kampfcharakter zu verleihen“. Die Anleihen an den Fußball (gleiche Abmessungen, gleiche Tore, gleiche Spieleranzahl) aber waren so offenkundig, dass „Beckmanns Sportlexikon“ noch 1933 den Handball als „Abart des Fußballspiels“ charakterisierte.

Diese heute als „Feldhandball“ bezeichnete Variante fand schnell Verbreitung in Deutschland, sodass dem Finale bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin rund 100.000 Zuschauer folgten. Hier war „Deutschland immer führend“, sagt Historiker Fischer, „aber seit den 60er-Jahren setzte mit dem Umzug in die Halle und neuen Regeln dann eine notwendige Modernisierung dieses Spiels ein“, abgeschlossen 1972 mit der Rückkehr in das olympische Programm. Doch seit 1978 läuft Deutschland, obwohl stets weltweit der personell stärkste Verband (830.000 Mitglieder), einem großen Titel hinterher. ERIK EGGERS