Vielfacher Kältetod wegen Mangelernährung

Die ungewöhnliche Kältewelle in Südasien ist mehr ein soziales Desaster als eine Klimakatastrophe. Erschreckende soziale Indifferenz

DELHI taz ■ Eine Kältewelle hat in Nordindien und Bangladesch in den letzten sechs Wochen zwischen 500 und 1.300 Menschen das Leben gekostet. Ungewöhnlich schwere Schneefälle in den Bergen haben am Südhang des Himalaja die Nachttemperaturen, die um diese Jahreszeit normalerweise um acht Grad über null betragen, auf knapp über null sinken lassen. So wie diese normalerweise nicht lebensgefährdenden Kältegrade zeigt auch die große Bandbreite der Opferschätzungen, dass die meisten Menschen nicht durch Erfrieren gestorben sind, sondern an den Sekundärwirkungen der Kälte, vor allem durch Lungenentzündung und sonstige Erkrankungen der Atemwege.

Die meisten Toten sind denn auch nicht in den eigentlichen Berggebieten von Nepal, dem indischen Uttaranchal und in Kaschmir zu beklagen, sondern in der moderateren Klimazone der Gangesebene und des Strom-Deltas von Bangladesch. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Bergbewohner, die jedes Jahr mit Temperaturen unter null leben müssen, bei Kleidung und Behausung wirksame Überlebensstrategien entwickelt haben, die den Millionen Menschen fehlen, die normalerweise mit einer Decke durch den Winter kommen. Ein Blick auf den kürzlich von der indischen Swaminathan-Stiftung publizierten „Food Insecurity Atlas“ von Südasien zeigt, dass die Kältewelle wie andere „Naturkatastrophen“ in Wahrheit ein soziales und ökonomisches Desaster ist.

Die Bezirke von Uttar Pradesh, Bihar und Bangladesch mit der größten Zahl der Kältetoten sind dieselben Regionen, die in Dürrejahren am meisten Hungertote und bei Überschwemmungen die meisten Flutopfer zu beklagen haben. Mangelernährung und chronische Magen-Darm-Erkrankungen durch unreines Trinkwasser schwächen die körperlichen Schutzmechanismen, die durch das Leben in ungeheizten Hütten aus Bast oder Plastikfetzen oft zusammenbrechen.

Bei einer Anhörung mit Betroffenen aus Hungerregionen betonte der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen Anfang Januar in Delhi, dass Indien zwar „keine Hungersnot mehr kennt, aber noch chronisch viele Hungertote“. Im Gegensatz zu früher ereignen sich diese Tragödien trotz vieler „Food for Work“-Programme und Getreidevorräten von 65 Millionen Tonnen – einem Drittel der Jahresernte.

Die Unfähigkeit des Staates, sich des Hungers und Kälte anzunehmen, ist nicht nur Resultat bürokratischer Ineffizienz. Dahinter verbirgt sich auch soziale Indifferenz. Ausgerechnet die Chefministerin von Uttar Pradesh führt das in diesen Tagen vor. Statt sich der Probleme ihres Bundesstaates anzunehmen, ließ Mayawati, eine Dalit-Frau, ihre Verwaltung zwei Wochen ausschließlich für die Vorbereitungen ihres 47. Geburtstags arbeiten, der am Mittwoch in der Provinzhauptstadt Lucknow pompös gefeiert wurde. Statt die von der Kälte betroffenen Bezirke zu besuchen, musste der oberste Gesundheitsbeamte in Lucknow antreten, um die Qualität und Giftfreiheit der Süßigkeiten zu überwachen, die an tausende Mayawati-Fans verteilt wurden. BERNARD IMHASLY