Postpsychedelische fliegende Teppiche

Immer flexibel bleiben lautet das Motto der US-amerikanischen Avantgarde-Indierocker „TV on the Radio“. Heute Abend stellen sie ihr jüngstes Album „Dear Science“ auf dem Reeperbahn-Festival vor: Trauerarbeit mit Hitappeal

„Musik ist das flexibelste Medium der Welt für mich“, sagt David Sitek, multiinstrumental begabter Kopf und Produzent der Brooklyner Band „TV On The Radio“. Als hungrig und neugierig beschreibt er sich und versteht diese Haltung als entscheidenden Antrieb fürs Komponieren, so auch beim Schreiben der Songs des jüngsten Albums „Dear Science“. Wenn einer wie Sitek behauptet, dass Musik prinzipiell keiner Begrenzung unterliege, glaubt man das gern und fragt sich möglicherweise einmal mehr, weshalb zahlreiche Bands und Popjournalisten so tun, als sei exakt das Gegenteil der Fall. Aus Talentmangel, Ignoranz und Faulheit vermutlich.

„TV On The Radio“ eine talentierte Band zu nennen, würde indessen den Kern der Sache verfehlen. Anfänger sind talentiert, doch über diesen Punkt sind Kyp Malone (Gitarre, Gesang), Tunde Adebimpe (Gesang), Gerard Smith (Bass), Jaleel Bunton (Schlagzeug) und Sitek seit „Desperate Youth, Blood Thirsty Babes“ (2004), spätestens seit „Return To The Cookie Mountain“ (2006) weit hinaus.

Auf beiden Alben stellten sie Post Punk, New Wave, Elektronik, Gospel, Jazz und Doo Wop in einen bis dahin unerhörten musikalischen Zusammenhang – eigensinnig, melodiestark, hypnotisch. Beide Arbeiten wirkten mit ihren zig Spuren und flirrenden Hintergrundgeräuschen wie dicht gewebte, postpsychedelische fliegende Teppiche. Musikalische Drogen zum Wegdriften, auf den melancholischen Punkt gebracht von Adebimpes gleichermaßen energischem wie weltverlorenem Gesang.

„Dear Science“, das vierte Album, ist an Einflüssen nicht minder reich. Aber während „Desperate Youth, Blood Thirsty Babes“ noch mit Lo-Fi-Produktionsweisen liebäugelte und „Return To The Cookie Mountain“ an entscheidenden Stellen harsche (Indie-)Rock- und Krachregister zog, ist die jüngste Arbeit ihre bisher transparenteste und poppigste, was unter anderem am satten Funkappeal einiger Stücke liegt. Genauer: an einem Groove der späten 70er und frühen 80er, der in seiner Konstruktionsweise stellenweise an „The Talking Heads“ und Prince erinnert. Nur dass der Groove von „TV On The Radio“ so wirkt, als habe man ihn zusätzlich mit Blei beschwert – so bekommt der Tanz, der in den Stücken wohnt, Aspekte des Marschierens. Für „TV On The Radios“ Verhältnisse knackig produziert sind auch die Computer-Beats einiger Stücke; und süffig sakrale Violinen- und Bläserarrangements gab es bisher auch nicht.

Mehr Hitappeal hatten die New Yorker nie. Und doch: Der Sound-Untergrund schimmert weiterhin in dunklen synthetischen Nachtfarben; endzeitlich anmutende Gitarren- und Keyboardsounds wurden komprimiert und übereinander geschichtet; Melodien und Gesang eignet eine gewisse melodramatische Tragik – da passt kein Vogelzwitschern dazwischen. Von Hoffnung spendenden, fröhlichen Songs kann also überhaupt nicht die Rede sein. In diesen Kontext fügen sich auch Adebimpes Lyrics, in denen er unter anderem Trauerarbeit leistet, weil es in seinem Leben zuletzt gleich mehrere Todesfälle nahestehender Menschen zu beklagen gab. Adebimpe: „Ich schreibe diese Dinge, um ihnen zu entkommen.“ Schreiben als Instrument der Verarbeitung von Schmerz. Nicht der schlechteste Weg. In seinem Fall außerdem ein überaus kreativer.MICHAEL SAAGER

Sa, 27. 9., 21 Uhr, Große Freiheit 36, Große Freiheit 36