Die Linkspartei ist das Echo des Wandels in der SPD

Am 14. März 2003 verkündet der SPD-Kanzler Gerhard Schröder die Arbeitsmarkt- und Sozialsystemreform Agenda 2010. Eine These lautet: Ohne sie hätte die Linkspartei im Westen nie Fuß gefasst. Stimmt das?

Am 1. Januar 2003 tritt das erste der sogenannten Hartz-Gesetze der rot-grünen Regierung in Kraft. Hartz IV kommt am 1. Januar 2005. Idee: Arbeitslose sollen auf Trab gebracht werden. Kritik: Arbeitslose werden um ihre Ersparnisse der Altersvorsorge gebracht. Aus Protest formiert sich die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) – ein Sammelbecken Linksradikaler, Gewerkschafter und Sozialdemokraten. Am 22. Januar 2005 konstituiert sich die WASG als Partei. Zur Bundestagswahl 2005 alliieren sich PDS und WASG und werden als Linkspartei.PDS mit 8,7 Prozent viertstärkste der fünf Bundestagsfraktionen (53 von 614 Sitzen). 16. Juni 2007: Aus PDS und WASG wird Die Linke.

Am 14. März 2003 verkündete Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung die Agenda 2010. „Wir werden Leistungen des Staates kürzen und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abverlangen“ – so lautete der Schlüsselsatz, der die SPD-Basis schockte. Rot-Grün schaffte die Arbeitslosenhilfe ab, kürzte die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf ein Drittel und verschärfte den Druck auf Arbeitslose, Jobs anzunehmen. Keine bundesdeutsche Regierung hatte je derartige großflächige Löcher ins soziale Netz gerissen – nun tat dies ausgerechnet ein sozialdemokratischer Kanzler. Hartz IV wurde zum Symbol sozialer Kälte und massiver Abstiegsängste, die auch die Mittelschicht umtrieben. Wer nun arbeitslos wird, muss nach nur einem Jahr von 345 Euro leben. Die SPD gab ihren Markenkern soziale Gerechtigkeit auf – ausgerechnet in dem Moment, in dem die Meinungsführerschaft des Neoliberalismus zu Ende ging und sich eine Renaissance des Staates ankündigte. Die Effekt der Agenda 2010 auf die SPD, so der Parteienforscher Joachim Raschke, sei nur vergleichbar mit der abrupten Verwandlung der CDU in eine Pro-Abtreibungs-Partei.

Die Reaktion kam umgehend. Die SPD verlor reihenweise Landtagswahlen. Die Gewerkschaften gingen auf Distanz, eine Protestbewegung formierte sich, die WASG wurde gegründet und fusionierte mit der PDS zur Linkspartei. Zum ersten Mal seit 1919 lehrt der SPD seitdem eine erfolgreiche linkssozialdemokratische Konkurrenz das Fürchten. Die Agenda 2010 hat das stabile, schwer veränderbare bundesdeutsche Parteiensystem umgewälzt.

So scheint es – aber stimmt das auch? Hätte es die Etablierung einer sozialdemokratischen Konkurrenz und die Erfolge der Linkspartei ohne die Agenda nicht gegeben? Waren Schröders Basta-Stil und der soziale Kältestrom der Agenda der Grund für die Linkspartei – oder eher der Anlass?

Diese Frage mag etwas akademisch klingen, wie stets, wenn man historische Möglichkeitsformen erörtert. Aber sie hat praktischen Sinn. Wenn die Agenda nur der Anlass für die Abspaltung von Teilen des linken Flügels der SPD war, dann kann die SPD durch eine kluge Revision der Agenda-Politik die Geschichte vermutlich auch wieder zurückdrehen. Wenn die SPD, unbelastet von Regierungsverantwortung, mal wieder Opposition macht (wofür sie im Moment ja viel tut), warum soll sie dann die Linkspartei wenigstens im Westen nicht wieder an den Rand drängen können?

Es gibt allerdings ein paar Indizien, die zeigen, dass die Spaltung der Sozialdemokratie nicht nur das Echo auf die Agenda-Politik ist, sondern Ausdruck einer langwelligen Entwicklung. Die SPD verliert seit Jahrzehnten die Bindung an die Arbeiter, also jenes Milieu, dem sie selbst entstammt. 1980 wählten noch 60 Prozent der Arbeiter SPD, 2005 waren es nur noch 41. Eine ähnliche Kurve zeichnet sich bei den Arbeitslosen ab. 1980 votierten noch 55 Prozent der Arbeitslosen für die SPD, 2005 nur noch 38 Prozent. Die Entfremdung zwischen der SPD und dem unteren Viertel der Gesellschaft begann nicht am 14. März 2003. Die Distanz der Sozialdemokratie zu Arbeitern und Arbeitslosen ist sukzessive gewachsen – und zwar unabhängig davon, ob die SPD regierte oder opponierte. Gerade die Arbeitslosen wandten sich bei der Bundestagswahl 2005 und stärker noch bei der Landtagswahl in Niedersachsen von der SPD ab und der Linkspartei zu.

Die SPD hat sich in den letzten fünfzig Jahren sozialen Aufsteigern geöffnet. Sie hat mühsam das Image abgestreift, eine mausgraue Arbeiterpartei zu sein – und in diesem Prozess den Draht zu ihrer Klientel verloren. Arbeiter sind im Jahr 2008 noch ganze 8 Prozent der SPD-Mitglieder. Mit dem Mindestlohn hat die SPD seit langem mal wieder eine Forderung, mit der sie auf ihre vergessene Klientel zugeht und ihr verblasstes Image als Schutzmacht der kleinen Leute aufpoliert. Doch die Entfremdung zwischen der neumittig ausgerichteten SPD und den Unterschichten sitzt tief. „Krise der Repräsentation“ nennen Soziologen dieses Phänomen, das weit über Tagespolitik hinausweist.

Es gibt noch ein Indiz, das für eine dauerhafte Existenz der Linkspartei spricht. Auch in Dänemark, den Niederlanden und Schweden haben sich neben den klassischen sozialdemokratischen Parteien kleinere, linke Konkurrenten etabliert. Entscheidenden Auftrieb bekamen diese Parteien stets in dem Moment, in dem die traditionsreichen Sozialdemokraten den Sozialstaat beschnitten, den Arbeitsmarkt deregulierten, auf Sparpolitik umschwenkten und, mit Verweis auf Sachzwänge, ihre Stammwählerschaft brüskierten.

Kurzum: Die Linkspartei ist das Echo des Wandels der SPD. Sie ist die Rache jener, die sich von der schneidigen Sachzwangrhetorik Steinbrücks & Co abgestoßen und von den Aufstiegs- und Chancenverheißungen der neuen SPD nicht gemeint fühlen. Genau deshalb reagiert die SPD auch so allergisch auf Lafontaine & Co.

Neue politische Konkurrenz ist nie erfreulich – aber wenn sie einen Teil der eigenen Stammkundschaft entführt, ist der Schmerzimpuls besonders heftig. Die SPD reagiert darauf ähnlich wie Anfang der 80er-Jahre bei den Grünen: mit wütender Abgrenzungsrhetorik einerseits, halbherziger Korrektur der eigenen Politik andererseits. Nutzen wird das wenig. Erst wenn der Trennungsschmerz nachlässt, wird die SPD nüchtern prüfen können, was geht. Sie wird eine Arbeitsteilung mit der Linkspartei anstreben und versuchen, solide Koalitionen mit ihr zu schmieden. Und merken, dass ihr politischer Möglichkeitsraum nicht kleiner geworden ist. Sondern eher größer.

STEFAN REINECKE, Jahrgang 1959, ist Parlamentskorrespondent der taz und beschäftigt sich mit der SPD und der Linkspartei.

Wachsende Armut und Spaltung der Gesellschaft sind keine unvermeidliche Folge der Globalisierung, sondern Ergebnis der rot-grünen Agenda 2010. Ironie der Geschichte: Schröders Politik hat auch die eigene Zielgruppe zum Schrumpfen gebracht – die „neue Mitte“

Die Klassengesellschaft ist zurückgekehrt nach Deutschland. Privatschulen boomen, und der Begriff „Elite“ ist ein Etikett, das sich möglichst viele anheften wollen. Dieser Drang zum Höheren drückt nicht nur gesellschaftlichen Ehrgeiz aus – er entspringt auch der Angst, abgehängt zu werden. Wer nicht oben ist, so die Furcht, der ist unten. Also wird am Styling des eigenen Lebens gebastelt.

Diese Sorge vor dem Abstieg ist nicht unbegründet, wie Studien belegen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ermittelte im März 2008, dass die Mittelschicht hierzulande schwindet. Im Jahr 2000 verfügten noch 62 Prozent der Deutschen über ein mittleres Einkommen, 2005 waren es nur noch 54 Prozent. Oder in absoluten Zahlen ausgedrückt: Nur noch 44 Millionen Menschen definierten sich als „Mitte“, 5 Millionen weniger als noch zur Jahrtausendwende. Wer jetzt nicht mehr zur Mitte zählte, der ist meist abgestiegen. Die Unterschicht macht inzwischen etwa ein Viertel der Bevölkerung aus, das sind 7 Prozentpunkte mehr als noch im Jahr 2000.

Diese Daten sind unstrittig, doch umkämpft ist ihre Deutung. Ist die wachsende Armut und Spaltung der Gesellschaft unvermeidbar, weil die Globalisierung nun einmal unaufhaltsam voranschreitet? Oder hat die Agenda 2010 die Spreizung in Arm und Reich entscheidend verschärft?

Wieder hilft ein Blick in die DIW-Statistiken weiter: Es ist sehr auffällig, dass die Mittelschichten erst seit 2001 massiv schrumpfen. Zuvor war die Einkommensverteilung über Jahrzehnte stabil. Die Globalisierung begann nicht erst im 21. Jahrhundert.

Das Schrumpfen der Mittelschicht scheint also doch ein Effekt zu sein, der untrennbar mit der rot-grünen Politik zusammenhängt. Die Ironie ist natürlich nicht zu übersehen: Ausgerechnet diese „Mitte“ – gern auch „neue Mitte“ genannt – war die erklärte Zielgruppe des Kanzlers Schröder.

Was ist also schiefgelaufen? Wie konnten Absicht und Wirkung sozialdemokratischer Politik in einen derartigen Widerspruch geraten? Wieder sind Statistiken aufschlussreich.

Was sich dort zeigt: Die Agenda-Politik hat keineswegs nur die Langzeitarbeitslosen getroffen, wie es von Rot-Grün eigentlich intendiert war. Stattdessen hat der gezielte Ausbau des Niedriglohnsektors das gesamte Einkommensgefüge in Deutschland durcheinandergebracht.

Konkret: Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat sich die Mühe gemacht, die beiden wirtschaftlichen Boomphasen 1998 bis 2001 sowie 2005 bis 2008 miteinander zu vergleichen. Die Unterschiede könnten nicht markanter sein.

Von 1998 bis 2001 lief noch alles weitgehend normal: Die Wirtschaft wuchs real um 7 Prozent – und die realen Nettolöhne pro Arbeitnehmer stiegen um 4 Prozent. Beim jüngsten Aufschwung hingegen kam es laut IMK ganz anders: Die Wirtschaft wuchs zwar sogar um real 9 Prozent, aber bei den Beschäftigten kam davon gar nichts an. Im Gegenteil. Eine vierköpfige Familie mit einem Alleinverdiener musste ein Minus von real 3,5 Prozent verkraften.

Allein die Unternehmer und Kapitalbesitzer haben also vom vergangenen Boom profitiert. Verluste beim Realeinkommen, obwohl die Wirtschaft brummt – das gab es noch nie in der bundesdeutschen Geschichte. Auch im europäischen Vergleich ist dieses Phänomen durchaus ungewöhnlich. Die OECD hat verglichen, wie sich in verschiedenen Ländern der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt entwickelt hat. Damit lässt sich messen, wer vom Wachstum profitiert – ob die Arbeitnehmer oder die Kapitaleigner. Ergebnis: In Deutschland ist der Lohnanteil am Volkseinkommen zwischen 2000 und 2005 um 3,1 Prozent gesunken. Das ist der absolute Minusrekord unter allen OECD-Ländern. In Frankreich, zum Beispiel, konnten die Beschäftigten sogar 0,2 Prozent hinzugewinnen.

Die rot-grüne Agenda-Politik stellt für Deutschland – aber auch europaweit – einen Sonderweg dar. Die Konsequenzen sind der Bevölkerung nicht verborgen geblieben: 88 Prozent geben in Umfragen an, dass sie nicht glauben, vom Aufschwung profitiert zu haben. Das ist keine Sinnestäuschung, sondern das ist eine Folge rot-grüner Agenda-Politik.

ULRIKE HERRMANN, Jahrgang 1964, ist wirtschaftspolitische Korrespondentin der taz. Wuchs 500 Meter entfernt vom Bungalow von Helmut Schmidt in Hamburg auf. Seither interessieren sie die Auf- und Abschwünge der SPD.