Ruanda kann überall sein

Der Völkermord in Ruanda ist der schnellste Massenmord der Weltgeschichte. Zwischen April und Juli 1994 werden rund 800.000 Menschen ermordet. Wie dieser organisierte Genozid die internationale Politik und die Diskussion um die Souveränität von Staaten verändert hat

Ruanda ist ein Binnenstaat in Ostafrika. Etwa 9 Millionen Einwohner, eine Dreiviertelmillion davon leben in der Hauptstadt Kigali. Ruanda grenzt an Burundi, die Demokratische Republik Kongo, Uganda und Tansania. Meist hügeliges Hochland. Auf ruandischem Boden verläuft die afrikanische Hauptwasserscheide zwischen den Einzugsgebieten des Nil und des Kongo. Von 1884 bis 1916 war Ruanda deutsche Kolonie und Teil von Deutsch-Ostafrika. Seit 1962 unabhängig (von Belgien). Der Völkermord in Ruanda beginnt am 6. April 1994 und dauert bis Mitte Juli 1994. Ziel ist die Ermordung aller Tutsi, der in Ruanda lebenden Minderheit. Offizielle ruandische Angabe ist, dass innerhalb von 100 Tagen 947.000 Menschen ermordet wurden. Der Völkermord hat Ruandas ohnehin schon schwache wirtschaftliche Basis weiter geschädigt und die Bevölkerung, insbesondere Frauen, nachhaltig verarmen lassen. Ruanda zählt zu den ärmsten Ländern in Afrika.

Die Zahlen sprengen jede Vorstellungskraft. 800.000 Tote innerhalb von 100 Tagen, vielleicht mehr, vielleicht weniger; die offizielle ruandische Zählung lautet 947.000, damalige Schätzungen waren 500.000 bis eine Million. Der Völkermord in Ruanda zwischen April und Juli 1994 war der schnellste und brutalste Massenmord der Weltgeschichte. Eigens aufgestellte Milizen unter Anleitung der Sicherheitskräfte sowie Armee, Präsidialgarde und andere bewaffnete Organe unternahmen die kontrollierte Ermordung aller Tutsi Ruandas, 1994 waren das vermutlich rund eine Million Menschen. In Reaktion darauf eroberte eine Tutsi-Rebellenbewegung das Land und verhinderte die Vollendung des Genozids kurz vor Schluss; sie regiert Ruanda bis heute. Aber die Auswirkungen des Völkermords sind bis heute lebendig.

Es begann am Abend des 6. April 1994, als von einem Hügel neben dem Flughafen von Ruandas Hauptstadt Kigali eine Boden-Luft-Rakete in den Himmel stieg und ein Flugzeug abschoss, in dem Ruandas damaliger Präsident Juvénal Habyarimana saß. Habyarimana, 1973 per Militärputsch an die Macht gekommen, führte ein Regime der ethnischen Diskriminierung, in dem die sozialen Klassifizierungen „Tutsi“ und „Hutu“ – aus alten vorkolonialen sozialen Zuschreibungen für mächtige Viehzüchter und von diesen abhängige Bauern entstanden und später in der Kolonialzeit als Rassenbezeichnungen missbraucht – in karikaturaler und düsterer Weise die Grundlage des politischen Selbstverständnisses bildeten: Tutsi, von denen viele bei der Unabhängigkeit 1959 vertrieben worden waren und im Exil lebten, galten gemäß der kolonialen Geschichtsklitterung als Fremde, als hochnäsige Feudalherren und als Gefahr für die Hutu-Staatsmacht, die das fleißige einheimische Hutu-Bauern- und -Mehrheitsvolk schützte. Als Tutsi-Exilrebellen aus Uganda heraus in der „Ruandischen Patriotischen Front“ (RPF) ab 1990 den bewaffneten Kampf gegen die Regierung Habyarimana aufnahmen, organisierte das Regime mit Militärhilfe aus Frankreich den Aufbau von Volksmilizen und einer vergrößerten Armee, die alle Tutsi des Landes als „inneren Feind“ verdächtigte. Tutsi wurden interniert, an Straßensperren festgehalten und ermordet. International vermittelte Friedensverhandlungen sorgten 1993 für ein Abkommen, das der RPF eine Teilhabe an Regierung und Armee zusprach. Radikale Teile der Regierung Habyarimana lehnten dies ab und predigten die endgültige Auslöschung der Tutsi, damit die Hutu endlich Ruhe hätten. Sie waren es vermutlich auch, die Habyarimana am 6. April 1994 umbrachten, nachdem er auf einem Regionalgipfel die Umsetzung des Friedensabkommens versprochen hatte. Innerhalb weniger als einer Stunde nach dem Abschuss war Kigali voller Straßensperren, die Sicherheitskräfte gingen von Haus zu Haus und nahmen Tutsi mit, um sie zu erschießen. Sie ermordeten am Folgetag auch die im Friedensabkommen designierte Premierministerin und richteten eine Militärregierung ein, die im Staatsapparat und per Rundfunk landesweit den Befehl erteilte, den „inneren Feind“ zu bekämpfen, mit allen Mitteln.

In den nächsten Tagen ging das Massenmorden immer weiter. Jeden Tag. In immer mehr Orten. Unter den Augen eigens entsandter europäischer Soldaten, die Weiße evakuierten. Unter den Augen der UN-Blauhelme, denen Befehle und Mittel zum Eingreifen versagt wurden. Die Welt wollte nicht wahrhaben, dass ein organisierter Genozid im Gange war. Sie dachte, die Massaker seien Begleiterscheinungen einer neuen Kriegsrunde zwischen Regierung und RPF. Neue Waffenstillstandsverhandlungen waren daher prioritär; die unmittelbare Rettung bedrohter Menschen nicht. Wenn Tutsi-Soldaten der RPF vereinzelt vorrückten, galt dies als größere Gefahr für eine eventuelle Friedensregelung, als wenn Hutu-Milizionäre in Kirchen und Schulen Tausende Menschen töteten.

Die Hutu-Militärregierung wurde schließlich von der RPF zurückgedrängt. Als Ende Juni 1994 klar wurde, dass sie Ruanda nicht mehr halten konnte, griff ihr alter Verbündeter Frankreich militärisch ein. Eine französische „Schutzzone“ im Westen Ruandas ermöglichte die geordnete Flucht des alten Hutu-Staatsapparats, samt Armee, Staatskasse und über einer Million Zivilisten, ins benachbarte Zaire. Von dort aus, wo gigantische UN-versorgte Flüchtlingslager entstanden, sollte der Krieg weitergehen. Die Tutsi der RPF übernahmen die Macht in einem verwüsteten Ruanda, einem Trümmerfeld voller Leichen. Auf sich allein gestellt und geprägt von der frischen Erinnerung an die Tatenlosigkeit der Weltgemeinschaft während des Genozids, entwickelte die neue ruandische Regierung unter RPF-Führer Paul Kagame, heute Staatschef, eine Geringschätzung für internationale Betroffenheiten und diplomatische Feinheiten. Das machte es ihr leicht, ab 1996 eigenmächtig in Zaire zu intervenieren, um dort die einstigen Hutu-Gegner am Wiedereinmarsch nach Ruanda zu hindern sowie die dortigen Tutsi zu schützen. Nebenbei stürzte Ruanda damit in Zaire die Regierung, ohne die Folgen zu bedenken, und verstrickte dadurch sich und halb Afrika in dem in Demokratische Republik Kongo umbenannten Land in einen panafrikanischen Krieg. Im Osten des Kongo toben Kämpfe zwischen Hutu und Tutsi, sowohl ruandischen als auch kongolesischen, noch immer. Ruandas Völkermord war eine Zäsur in der Weltgeschichte. Dass eine Staatsmacht in einem eher armen Land ein ganzes Volk mobilisieren kann, mit primitivsten Mitteln wie Äxten und Macheten Massenmorde mit durchschnittlich 10.000 Toten am Tag zu begehen, lässt zwei mögliche Schlüsse zu: Entweder der Afrikaner, genauer der Ruander und speziell der Hutu, ist in besonderem Maße blutrünstig; oder Hasspropaganda und ein effizienter Staatsapparat können Menschen zu grausamsten Verbrechen treiben, indem man ihnen diese als ganz normal verkauft, als patriotische Pflicht und als einzige Möglichkeit zur Selbstverteidigung.

Unter dem Eindruck der Gewalt von 1994 war die erste These trotz ihres eindeutigen Rassismus weit verbreitet. Inzwischen hat sich dank genauerer historischer Analyse die zweite These durchgesetzt. Sie macht klar, dass der Völkermord in Ruanda auch woanders wiederholt werden könnte – eine Erkenntnis mit Konsequenzen weltweit. Denn noch einmal, das bestreitet in der internationalen Politik niemand mehr, darf ein solcher Genozid nicht tatenlos hingenommen werden, egal wo und von wem er begangen wird.

So ist inzwischen internationaler Konsens, dass ein Staat seine Souveränität und seinen Schutz vor Eingreifen in die inneren Angelegenheiten verwirkt, wenn er beginnt, seine eigenen Bürger umzubringen – das war vorher keineswegs selbstverständlich. Daraus ist die „Schutzverantwortung“ entwickelt worden, die „Responsibility to Protect“, die völkerrechtliche Pflicht zum Eingreifen zum Schutz von Völkern vor einem Völkermord. Insbesondere beim Krieg im sudanesischen Darfur, den manche als Völkermord bezeichnen, bleibt dies in der Diskussion.

Dass es eine internationale Justiz gibt, die Völkermord und ähnliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnden kann, ist eine damit verbundene weitere Konsequenz aus Ruanda 1994 – gekoppelt mit dem gleichzeitig stattfindenden Bosnienkrieg, der damals viel diplomatische Aufmerksamkeit band. Während in Ruanda gemordet wurde, stand die bosnische UN-geschützte Enklave Goražde unter serbischem Beschuss, und ein Jahr später erfolgte das Massaker von Srebrenica, das als einziges Kriegsverbrechen Europas seit dem Zweiten Weltkrieg an die Dimensionen Ruandas heranreicht. Die internationalen Tribunale für Ruanda und Exjugoslawien, Kern der seither im Aufbau befindlichen Weltjustiz, entstanden unter dem Eindruck dieser Dramen und auch in der Wahrnehmung, dass ein Genozid Folgen hat, die das betroffene Land alleine nicht bewältigen kann.

Der Völkermord in Ruanda 1994, seine Auswirkungen und seine Analyse sind für die taz von Anfang an ein wichtiges Thema gewesen, und der Umgang hat die Identität der Zeitung als Organ des investigativen Journalismus und der unbequemen Wahrheiten mitgeprägt. Die taz wies als einzige Zeitung in Deutschland schon vor 1994 wiederholt in eigenen Recherchen auf Todesschwadronen und von höchster Stelle organisierte politische Gewalt in Ruanda hin. Als am 6. April 1994 mit dem Flugzeugabschuss über Kigali das Massenmorden losging, war die taz über die möglichen Folgen allerdings ebenso ratlos wie alle anderen Medien, denn unmittelbar war nicht klar, wohin das führte.

Die damalige taz-Korrespondentin in Nairobi, Bettina Gaus, reiste zunächst nach Burundi, dessen Präsident ebenfalls im abgeschossenen Flugzeug ums Leben gekommen war und wo bereits ein Bürgerkrieg herrschte, dessen Eskalation zu befürchten stand. Die Weiterreise eröffnete dann schnell das volle Ausmaß des viel größeren Grauens in Ruanda.

Später, in Hintergrundbeiträgen und Debatten, wurde auch versucht, die Unfassbarkeit der Ereignisse analytisch aufzufangen und den Versuch einer Erklärung zu unternehmen. Nachdem der ruandische Konflikt ab 1996 Zaire (heute Kongo) erreichte, wurden die Konflikte im Kongo und im Afrika der Großen Seen insgesamt ein Schwerpunktthema der Zeitung.

Kontroversen mit teils erheblichen Auswirkungen auf die innerdeutsche Diskussion hat die taz bei diesem Thema nie gescheut. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein müsste – im Zweifel auf der Seite der Opfer zu stehen –, erregt auch im Falle Ruanda immer wieder Ärger. Mit Debatten über die deutsche Mitverantwortung beim Wegsehen vor dem Völkermord und beim Umgang mit dem Land und der Region hinterher sorgte die taz immer wieder für Aufsehen, etwa 1995 als Kontroverse zwischen dem damaligen Außenminister Klaus Kinkel und dem damals wohl streitbarsten humanitären Helfer Deutschlands, Rupert Neudeck. Es ging um die Frage, wie Deutschland Ruandas neue Regierung unterstützen sollte. Recherchen über Rohstoffplünderung und fragwürdige Geschäfte in Kongos Kriegsgebieten ab 2000 samt deutscher Beteiligung machten die taz in der Debatte zu Ressourcenpolitik in Kriegsgebieten international bekannt. Die anhaltenden weltweiten Aktivitäten exilierter Verantwortlicher des ruandischen Völkermords und ihrer Verbündeten, von denen manche in Deutschland leben, waren im April 2008 wieder Thema einer taz-Titelgeschichte, die heftige Reaktionen hervorrief. D. J.

In Ruanda bestand ein Teil der Bewältigung des Völkermords darin, die Konflikte des Landes über Nachbarländer wie Kongo weiterzutragen; in Exjugoslawien bestand sie in ethnischen Aufteilungen, die aus innerstaatlichen Konflikten zwischenstaatliche machten. Das Ergebnis ist ein Phänomen, das Ruanda weder als erstes noch als letztes Land erlebte, wohl aber am deutlichsten ins internationale Bewusstsein gehoben hat: Auch innere Konflikte eines Landes können grenzüberschreitend geführt werden. Der „grenzüberschreitende Bürgerkrieg“, in dem sich Fraktionen aus bzw. in mehreren Staaten gleichzeitig um die Vormacht in einem einzigen Land streiten, ist ein weiteres und sehr schwieriges Erbe der Erschütterungen von Ruanda 1994.

Letztlich am schwersten tragen an den Folgen des Völkermordes allerdings die Ruander selbst. Ruandas Regierung mag inzwischen noch so hartnäckig die Anwendung der Kategorien von Hutu und Tutsi als koloniales Missverständnis ablehnen und stattdessen die Einheit der Nation im Geiste der Modernisierung predigen – die Opfer, Überlebenden und Täter selbst sowie ihre Nachkommen werden mit dem, was sie erlebt, getan, erlitten und gesehen haben, deswegen nicht leichter fertig. Spätfolgen von Traumata, das lehrt beispielsweise die deutsche Geschichte, können noch Jahrzehnte später neu aufbrechen. Ruanda hat durchaus das Potenzial, auch in Zukunft noch Weltgeschichte zu schreiben.

DOMINIC JOHNSON, 42, Brite deutsch-britischer Abstammung, ist seit 1990 Afrika-Redakteur der taz. Zunächst bei der Ost-taz, die im Frühjahr 1990 als erste und einzige Neugründung einer überregionalen Tageszeitung in der DDR zwischen Mauerfall und Vereinigung erschien. Zuvor in England in der Zusammenarbeit zwischen britischer Friedensbewegung und DDR-Dissidenten aktiv.