Was wurde eigentlich aus Somalia?

Am 26. Januar 1991 wurde der somalische Diktator Siad Barre gestürzt. Endlich. Danach wurde alles schlimmer: Bürgerkrieg. Dann organisierten die USA eine humanistische UN-Militärintervention. Und alles wurde erst richtig schlimm. Aber darüber redet keiner mehr. Ein Lehrstück

Somalia liegt im äußersten Osten Afrikas und ist – im Unterschied zu den meisten anderen afrikanischen Ländern – ethnisch homogen. Die Bevölkerung Somalias gehört zu fast 100 % dem sunnitischen Zweig des Islam an, hat eine gemeinsame Kultur und Sprache. Hauptstadt ist Mogadischu. Somalia entstand aus dem Zusammenschluss der Kolonialgebiete Britisch- und Italienisch-Somaliland, die 1960 fast gleichzeitig unabhängig wurden. Theoretisch ist Somalia eine Republik, praktisch überhaupt nichts. Schon vor dem Sturz der autoritären Regierung unter Siad Barre befanden sich weite Teile des Landes im Bürgerkrieg. Verschiedene Clans kämpften um Einfluss. Seit 1991 gibt es keine Zentralregierung mehr. Eine von den USA anerkannte sogenannte „Übergangsregierung“ kann sich nur mit Hilfe äthiopischer Einmarschtruppen in Mogadischu überhaupt aufhalten. Der Norden Somalias kämpft seit 1991 um die Unabhängigkeit als Republik Somaliland. Auch andere Landesteile streben nach Autonomie oder Unabhängigkeit. Somalia gehört zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Die Somalier leiden unter Trockenheit, Überweidung und Abholzung. Infolgedessen und in Folge des Krieges kommt es immer wieder zu Hungersnöten.

Im Innenhof der ehemaligen Präsidentenresidenz Villa Somalia lagen verwesende Leichen, Opfer des letzten Gefechts vor der Flucht des langjährigen Diktators Siad Barre aus der Hauptstadt Mogadischu.

„Das sollten Sie nicht sehen, das ist kein Anblick für eine Frau“, sagte unser einheimischer Begleiter hilflos. „Wollen Sie ein Aspirin?“

Damals, Anfang 1991, herrschten Entsetzen und Fassungslosigkeit in der Bevölkerung über die zerstörerischen Folgen des Bürgerkriegs. Heute würde der Anblick eines Toten am Straßenrand in Somalia vermutlich nicht einmal ein Kind erschrecken. Derlei gehört längst zum Alltag.

Nur sehr wenige andere Länder sind in der Neuzeit derart ausdauernd und brutal von den apokalyptischen Reitern heimgesucht worden wie Somalia. Krieg, Hunger und Seuchen haben schon vor Jahren zu einer Verrohung der Gesellschaft in einem kaum vorstellbaren Maß geführt. Die meisten heute 20-jährigen Somalier haben in ihrem Leben kein anderes Mittel für die Lösung gesellschaftlicher Konflikte kennengelernt als Gewalt.

Wenn sich die verfeindeten Fraktionen eines – wie immer – fernen Tages auf ein ernsthaftes Friedensabkommen verständigen, dann darf bezweifelt werden, dass sich mit noch so gut gemeinten Umschulungsprogrammen aus jugendlichen Milizen einfach gesetzestreue Tischler und Klempner machen lassen.

„Milizen“ ist übrigens inzwischen häufig ein beschönigender Ausdruck für einen Berufsstand, der anderswo „Bandit“ heißt, weil seine Angehörigen sich ihren Lebensunterhalt mit Entführungen, Überfällen und Plünderungen verdienen.

„Freiberufler“ nannte man sie in Mogadischu, als ich 2002 das letzte Mal dort war. Es ist unabweisbar: Somalia hätte mit den Folgen des Bürgerkrieges selbst dann noch Jahrzehnte zu kämpfen, wenn er morgen endlich zu Ende wäre.

Sehr bedauerlich, aber nicht zu ändern? Die Welt hat ja versucht zu helfen, aber die Somalis wollten sich eben nicht helfen lassen? Sind also selber schuld? Provozierend gefragt: Wer vermisst Somalia eigentlich?

Ist die Tatsache, dass dieser Staat seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr ansprechbar ist im Sinne des Völkerrechts, für irgendjemanden von Bedeutung – außer eben für die Somalis? Ist die Entwicklung also nicht ein schlagender Beweis dafür, dass die Behauptung falsch ist, wir seien „eine Welt“, sondern gespeist nur aus Sentimentalität und Gutmenschentum? Zeigt es nicht, dass wir – wenn wir Grundsätze des Humanismus nicht so ernst nehmen – gut und sicher leben können, auch wenn manche Teile der Weltkarte inzwischen zu weißen Flecken geworden sind?

Nein, das zeigt es nicht. Im Gegenteil. Gerade die Entwicklung in Somalia beweist, wie eng vernetzt und verdrahtet die gesamte Staatengemeinschaft inzwischen ist. Und welch unerfreuliche Folgen es für alle haben kann, wenn ein Teil des Ganzen für den Rest nicht mehr erreichbar ist.

In Afrika, wie auch andernorts, sind nach dem Ende des Kalten Krieges freiheitliche Blütenträume gereift. Dort sind sie allerdings schnell verwelkt. 1991, also in demselben Jahr, in dem Siad Barre ins Exil gejagt wurde, verloren noch zwei andere autokratische Herrscher ihr Amt: Mengistu Haile Mariam musste vor Rebellen aus Äthiopien flüchten, Kenneth Kaunda wurde in Sambia abgewählt. In anderen Ländern des Kontinents begann der Kampf um Pressefreiheit und Mehrparteiensysteme. Demokraten errangen seither in Afrika viele Teilerfolge – aber aufs Ganze betrachtet haben sie den Feldzug gegen Nepotismus, Korruption und ein autoritäres Staatsverständnis verloren.

Bisher jedenfalls.

Ein Teil der Misere ist hausgemacht. Knapp ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Kolonialismus kann man nicht mehr die Fremdherrscher von einst für alle Probleme verantwortlich machen. Die persönliche Gier vieler afrikanischer Politiker, ihr Hunger nach Macht und auch manche alten Traditionen wie beispielsweise die Verpflichtung, vor dem Einsatz für ein Gemeinwesen erst einmal für die eigenen Leute zu sorgen, haben viel zu dem afrikanischen Elend beigetragen. Aber ein großer Teil dieses Elends ist eben auch der Überheblichkeit der sogenannten westlichen Welt geschuldet, die sich oft mit selbstbewusster Unkenntnis paart.

Somalia ist dafür ein besonders prägnantes Beispiel. Der Kampf um Pfründen – früher: um Wasser-und Weiderechte – spielte in der nomadisch geprägten Gesellschaft stets eine große Rolle. Von wenigen glücklichen Jahren abgesehen, hatte die politische Führung nach der Unabhängigkeit diese Praxis auf die öffentliche Hand übertragen.

Siad Barre ging mit dem Staat um, als handele es sich bei dessen Etat um seinen privaten Sparstrumpf. Kein Wunder, dass die Bevölkerung der zentralen Verwaltung misstrauisch gegenüberstand. Wenig erstaunlich auch, dass nach der Vertreibung des Präsidenten blutige Fraktionskämpfe ausbrachen.

Die Folge dieser Kämpfe: eine der schlimmsten Hungersnöte, die je vom Medium Fernsehen in satte Wohnzimmer übertragen worden sind. Und das unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges! Dem konnte und wollte die letzte verbliebene Weltmacht nicht zusehen. Die USA organisierten eine UN-Operation im großen Stil. Die erste von mehreren Militärinterventionen, die angeblich ausschließlich humanitären Zwecken diente.

Auch die Bundeswehr wollte nicht beiseitestehen. In dem damals friedlichen und ziemlich satten Belet Huen saßen deutsche Soldaten und taten weitgehend – nichts. Weil nämlich die indischen Truppen, mit denen die Bundeswehr hätte zusammenarbeiten sollen, gar nicht erst nach Belet Huen gekommen waren. Was einige der damals Verantwortlichen bis heute nicht daran hindert, so zu tun, als sei erst durch die Militärintervention der Hunger besiegt worden.

Das ist Unfug. Der Zenit der Not ist durch eine beispiellose Kraftanstrengung des Roten Kreuzes überwunden worden, die einen Ring von Garküchen um Kleinstädte legte. Schon vor Ankunft der Soldaten.

Gelegentlich wurde und wird der Verdacht geäußert, es sei den Vereinigten Staaten bei der Operation vor allem um Zugriff auf die stillen Ölreserven in Somalia gegangen. Ich halte das für eine Verschwörungstheorie. Manchmal ist die einfachste aller Erklärungen auch die richtige. Washington konnte und wollte nicht hinnehmen, dass Babys vor den Augen der Weltöffentlichkeit verhungerten. Zumal doch die Welt unzweifelhaft endlich eine viel bessere Welt sein musste, nachdem das Reich des Bösen – die Sowjetunion – zerfallen war. Also mussten auch die somalischen Babys gerettet werden.

Was die USA und andere dabei übersahen: Die Verteilung von Hilfsgütern war in Somalia zu diesem Zeitpunkt eine kriegswichtige, möglicherweise kriegsentscheidende Frage. Wer hungerte und warum? In wessen Interesse lag das? Diese Frage spielte in der öffentlichen Diskussion nicht die geringste Rolle.

Gerade die Entwicklung in Somalia beweist, wie eng vernetzt und verdrahtet die gesamte Staatengemeinschaft inzwischen ist

Ob man keinen Widerstand seitens somalischer Bürgerkriegsfraktionen befürchte, wurde ein Verantwortlicher in einer Pressekonferenz in der kenianischen Hauptstadt Nairobi gefragt. Die verächtliche Antwort: „Diese barfüßigen Banditen können doch nicht einmal richtig zielen.“

Zielen vielleicht nicht. Aber treffen. Die ausländischen Truppen mutierten schnell zur Kriegspartei. Jene somalischen Kriegsfürsten, die nach der Ankunft der internationalen Militärs die Kontrolle über so wichtige Einflussbereiche wie Hafen und Flughafen der Hauptstadt hatten aufgeben müssen, waren verständlicherweise nicht begeistert über die Präsenz der Fremden – die schmälerte nämlich ihren Einfluss. Sie leisteten so erfolgreich Widerstand, dass westliche Truppen und die meisten Hilfsorganisationen 1993 das Land verließen.

Etwa 20.000 Soldaten der Dritten Welt waren allerdings auch danach noch etwa ein Jahr lang in Somalia stationiert. Ohne dass die westliche Presse dem noch besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Und seither? Seither hören wir nicht viel aus Somalia. Immerhin dies: Islamische Fundamentalisten haben in dem einst liberalen muslimischen Staat großen Einfluss gewonnen. Einen so großen Einfluss, dass sie vorübergehend die Hauptstadt Mogadischu und andere Landesteile kontrollierten. Vermutlich suchen nicht alle ihre Anhänger die Antwort auf die Sinnfrage. Manche wünschen sich wohl einfach geordnete Verhältnisse und sind bereit jeden zu unterstützen, der eine solche Antwort zu haben scheint.

Das ist allerdings keine Antwort, die für die USA akzeptabel wäre. Eine islamistische Herrschaft in einem Staat, den sie einst zu retten versucht haben? Gott bewahre. Die Reaktion: ein schier unfassbares Vertrauen in den Geheimdienst von Äthiopien, eines Staates, der seit Jahrzehnten territoriale Händel mit Somalia ausficht. Bei denen alle Seiten recht zu haben scheinen – es kommt nur darauf an, wie weit man zurückblickt in die Geschichte.

Die Vereinigten Staaten erwecken noch immer nicht den Eindruck, sich für irgendeinen Teil dieser Geschichte zu interessieren. Sie unterstützen äthiopische Einmarschtruppen, die – angeblich – den Frieden befördern sollen. Gelegentlich bombardiert die US-Luftwaffe auch Ziele, die ihr der äthiopische Geheimdienst nennt. Dabei sterben Leute. Ohne dass der Rest der Welt sich darüber aufregt. Somalia ist eben einer der weißen Flecken auf der Karte.

Vor einigen Jahren haben die USA versucht, somalische Handy-Netzwerke zu stören und Geldtransfers zu blockieren. Weil sie – vermutlich zu Recht – annahmen, dass diese als Mittel der Geldwäsche und als Mittel der Kommunikation für Islamisten dienen. Nach weniger als drei Werktagen hatten die Somalis brauchbare Alternativen gefunden.

Mit polizeilichen und militärischen Mitteln alleine lässt sich Islamismus nicht besiegen. Sondern im Gegenteil sogar befördern – wenn man nur genug Menschen gegen sich aufbringt. Und dann stellt man plötzlich fest, dass wir „eine Welt“ sind und es eben nicht irrelevant ist, was in einem noch so entlegenen Teil dieser Welt passiert.

BETTINA GAUS, politische Korrespondentin der taz, war von 1991 bis 1996 Afrika-Korrespondentin dieser Zeitung. Somalia ist so etwas wie ihr Lieblingsland. Sie war dort 27-mal.