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„Ich habe alles versaut“

So klingen Bekenntnisse von Schulabbrechern. In Berlin verlässt jeder vierte ausländische Jugendliche die Schule ohne Zeugnis. Danach beginnt ein Leben ohne Zukunftschancen. Fatih und Ercan machen sich auf die Suche nach dem, was noch bleibt

von BIANCA KOPSCH

Dunkle Leder- oder Sportjacken, kurz geschnittene, meist gegelte schwarze Haare, hier und da eine Goldkette. Türkische Jungs. Sie sitzen vor den Bildschirmen, surfen im Netz oder machen Computerspiele – oft auch zur Unterrichtszeit. Fatih K. kennt sie fast alle. Begrüßt sie mit Handschlag und Schulterklopfen. Auch er war regelmäßig in dem Neuköllner Internetcafé, als er eigentlich in der Schule hätte sein sollen.

„Schwänzen tut jeder“, erklärt der 17-Jährige. Groß und schlacksig hängt er auf dem Drehstuhl. „Wenn du nicht mitmachst, wirst du ausgelacht. ‚Was willst du in der Schule?‘, haben meine Freunde immer gesagt. ‚Ist doch total uncool. Da lernst du eh nix.‘ Dann sind wir hierher gekommen oder haben irgendwo anders abgehangen.“

Abhängen. Bis die Schulzeit zu Ende ist – und es kein Abschlusszeugnis gibt.

Fatih hat keins, sein Bruder nicht, seine Schwester nicht und die meisten seiner Freunde haben auch keins. „Normal“, sein Kommentar. Er kennt es nicht anders. Etwa jeder dritte Hauptschüler nichtdeutscher Herkunft verlässt die Schule ohne Abschluss. In Fatihs Klasse waren mehr als zwei Drittel der Schüler Ausländer. Inoffizielle Klassensprache: Türkisch.

Wenn er erzählt, hört man ihm seine Herkunft an. Er spricht zwar klar, braucht aber oft etwas Zeit, um die richtigen Worte zu finden. Er ist kein Freund langer Sätze. Der türkische Akzent ist erkennbar, aber nicht stark.

Das war nicht immer so. In der Grundschule ist er sitzen geblieben, weil er kaum Deutsch konnte. Nix verstanden, nix gesagt. Gute Noten gab es nur in Sport, in Kunst und in Musik. Eine besondere Förderung in Deutsch, Mathe oder anderen Fächern bekam er nicht. Die allein erziehende Mutter, Reinigungskraft, ohne Schulabschluss und mit wenig Deutschkenntnissen, konnte auch nicht helfen. Ab ging’s auf die Hauptschule.

„Einen Job krieg ich auch ohne Zeugnis!“

Dort hatte er Zoff mit den Klassenkameraden und Ärger mit den Lehrern, schloss dafür aber Freundschaften mit älteren Schulschwänzern. Nach zweimal Sitzenbleiben und einem zwangsweisen Schulwechsel war seine Schulkarriere zu Ende. Den berufsvorbereitenden Lehrgang in Elektrotechnik, bei dem er den Hauptschulabschluss hätte begleitend nachholen können, hat er kurz vor den Abschlussprüfungen auch geschmissen.

„Die Praxis hat mir Spaß gemacht, der Unterricht nicht“, sagt Fatih. „Ich hatte nur schlechte Noten, bin immer seltener hingegangen und irgendwann ganz weggeblieben. Außerdem hat mein Lehrer ständig auf Ausländer geschimpft, ‚Türken stinken‘ und so Sachen gesagt.“ Ende einer Bildungslaufbahn.

„Der Schulabschluss war mir total egal. Ich dachte, Arbeit krieg ich überall. Auch ohne Zeugnis“, erklärt Fatih. Weit gefehlt. In seinen Wunschberufen als Elektroinstallateur oder Kfz-Mechaniker hatte er ohne Abschluss keine Chance. Auch in der türkischen Welt Berlins kam er nicht unter: Selbst der Obst- und Gemüseladen wollte ihn nicht und auch nicht das Telecafé. Nach einem Jahr Zu-Hause-Rumhängen hatte er die Nase voll.

„Mir ist plötzlich klar geworden, was ich gemacht habe, wie schwer alles ohne Abschluss ist“, gesteht Fatih. Sein offenes, kindliches Gesicht wird ernst. Er beißt sich auf die Lippen. Vor einigen Wochen war er zum ersten Mal beim Arbeitsamt. Eine Sozialberaterin des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg ist mit ihm hingegangen. Ihm wurde ein dreimonatiger Berufsschnupperkurs vermittelt: theoretische Kurzeinführung in verschiedene Berufe, Firmenbesuche mit Arbeitsplatzbesichtigung und ein Praktikum.

„Das ist ganz gut, um überhaupt mal zu wissen, was man eigentlich so alles machen kann“, meint Fatih. Seinen Praktikumsplatz hat er sich allerdings an einem ihm bereits bekannten Ort gesucht: im Internetcafé – Treffpunkt aus Schulschwänzerzeiten.

Ab Februar möchte Fatih an der Volkshochschule in Kreuzberg seinen Hauptschulabschluss nachholen. „Das will ich auf jeden Fall, denn ich will ja auch noch eine Ausbildung machen“, kündigt er an. „Ohne Abschluss nimmt mich ja keiner!“ Einsicht und gleichzeitig Tatendrang – zumindest für eine gewisse Zeit.

Damit steht er nicht allein: Viele seiner Freunde würden irgendwie versuchen, die Schule abzuschließen. Die, die nicht „abgerutscht“ seien – „Drogen und Klauen und so“. Wie sein sechs Jahre älterer Bruder. „Der war viereinhalb Jahre im Gefängnis wegen solcher Sachen. Danach wurde er abgeschoben“, sagt Fatih mit leiser Stimme. Verunsicherung. „Da habe ich echt keinen Bock drauf.“

Schule und Kiffen passen nicht zusammen

Drogen und Klauen hat Ercan D. bereits hinter sich. „Ich habe nonstop gekifft“, erzählt der 21-Jährige von seiner Schulzeit. Das war in der 8. Klasse, in einer Realschule in Friedenau. In einem türkischen Jugendtreff hatte er neue Freunde gefunden. Kiffer. Plötzlich ging alles ganz schnell: Statt in die Schule zu gehen, war er mit seinen Kumpels unterwegs. Der Direktor habe sowieso etwas gegen Türken gehabt: „ ‚Typisch für euch Türken‘, hat der mal zu mir gesagt, als ich zu spät kam. Der konnte mich überhaupt nicht ab.“ Die Erdkundelehrerin habe ihn auf einmal „total heruntergeputzt“ und ihm eine Fünf gegeben. Ungerechtfertigterweise, sagt er. Erdkunde war eigentlich sein Lieblingsfach, er hatte immer gute Noten. Der Sportlehrer habe sich über sein türkisches Fußballtrikot lustig gemacht. „Ich bin dann einfach kaum noch in die Schule gegangen“, sagt Ercan. „Was soll ich da?“, hat er sich damals gefragt.“ Die klassische Schulschwänzerfrage – Vorankündigung eines Schulabbruchs.

Bei einem seiner seltenen Besuche nahm er dann noch ein fremdes Fahrrad mit. Verhaftung, zwei Wochen Schulverweis. Ein anders Mal musste er zwei Wochen zu Hause bleiben, weil er auf dem Schulgelände Türkisch gesprochen hatte. „Das war verboten.“ Er hatte sich mit dem Aufsicht habenden Lehrer angelegt. Dann kam noch zweimal Sitzenbleiben und schließlich der Rausschmiss. Die Schulzeit war vorbei. Abschlusszeugnis gab es keins.

Ercan zuckt mit den Schultern. „Ich habe damals verdammt viel Scheiße gebaut“, gibt er zu. „Dass ich den Abschluss nicht geschafft habe, war echt meine Schuld.“ Die Augenbrauen gehen hoch, die Stirn wird faltig. Ein unsicheres Lächeln auf einem freundlichen Gesicht. Irgendwie alles dumm gelaufen.

Dabei sah es zwischendurch ganz gut aus – auch wenn der Anfang schwer war. Ohne Deutschkenntnisse in die erste Klasse bedeutete für ihn: wiederholen. Er war vorher weder in der Kita noch in der Vorschule gewesen. Zu Hause wurde nur Türkisch gesprochen, das deutsche Vokabular seines Vaters beschränkte sich auf „hallo“ und „tschüss“. „Ich selbst konnte am Anfang der Schule nicht einmal ‚Ich muss mal aufs Klo“ sagen.

Ercan lacht. Damals haben die anderen gelacht, seine Mitschüler, überwiegend Deutsche. Er, der kleine Türke, der nicht mitreden konnte, wurde zum Außenseiter.

Beim zweiten Anlauf klappte es besser: Ercan fand deutsche Freunde und lernte die Sprache. Jetzt machte ihm auch die Schule Spaß. Die Noten wurden besser, auch wenn Deutsch sein schlechtestes Fach blieb. „Als Ausländer muss ich mich besonders unter Beweis stellen“, hat er sich damals gedacht. „Sonst habe ich gar keine Chance, einmal etwas zu werden.“ Er schaffte den Sprung auf die Realschule. Keine Selbstverständlichkeit für ein türkisches Kind.

Dann kamen die Kifferfreunde vom Jugendtreff. Auch Türken, aber ganz anders drauf als er. Abhänger.

„Keiner ging zur Schule, keiner hatte ’nen Job, ab und zu was klauen, das war’s“, beschreibt Ercan seine damaligen Kumpels. „Denen war alles egal.“ Hauptsache cool. „Kiffen ist cool, klauen ist cool, Drogen dealen ist cool. Du musst ein ‚Gangster‘ sein, dann bist du cool“, erklärt der junge Türke mit weicher, angenehmer Stimme seine frühere Szene. „Ey, bist du brutal, Alter!“ – das größte Kompliment unter türkischen Straßenjungs.

Mit ihnen verbrachte Ercan auch seine Freizeit, als er nach der Schule einen vom Arbeitsamt finanzierten Tischlerlehrgang machte. Parallel zu dieser berufsvorbereitenden Maßnahme hätte er den erweiterten Hauptschulabschluss erwerben können – wenn er zur Prüfung gegangen wäre.

Stattdessen begann er zu koksen, bis er zu Hause rausflog und seine Freundin ihn verließ. Zukunftsaussichten - ein Wort aus einer anderen Welt.

„Schule ist uncool. Da lernst du nichts“

„Meine Eltern wollten immer, dass ich es schaffe, dass ich eine Ausbildung mache, dass es mir einmal besser geht als ihnen.“ Ercans ehrliche braune Augen starren auf den Boden, sein durchtrainierter Körper wird steif. Seine Eltern kamen vor dreißig Jahren nach Deutschland. Der Vater arbeitete als Gleiswerker bei der BVG, die Mutter kümmerte sich um die sieben Kinder. Einen Schulabschluss hatten beide nicht. Von den Kindern hat den bisher nur eins geschafft.

„Ich habe alles versaut. Das ist mir erst richtig klar geworden, als meine Freundin mich verlassen hat.“

Das ist jetzt über zwei Jahre her. Nach dem ersten Schock kam das Umdenken. „Drogen, Kriminalität, Schulversagen, Elternstress, Beziehungskrise – das war zu viel für mich. Das war mir eine echte Lehre.“ Ercan distanzierte sich von seinen Freunden, trieb Sport, statt zu kiffen, und suchte einen Job. Glück im Unglück: Ein Kumpel seines Bruders bot ihm eine Stelle als Hilfsarbeiter in seiner Firma für Fassadenarbeiten an. Tageslohn war 80 Mark.

Nach einem halben Jahr machte sich Ercan mit einer ähnlichen Firma selbstständig und wurde Subunternehmer. Heute beschäftigt er zehn bis zwanzig Mitarbeiter in der Saison. Die Schulden, die ihm sein verstorbener Vater hinterlassen hat, hat er schon abbezahlt, erwähnt er beiläufig. Das Geschäft läuft ganz gut.

„Ich will nur arbeiten und meine Ruhe“

Den Schulabbruch bereut er trotzdem: „Wenn es einmal nicht mehr laufen sollte mit der Firma, stehe ich da und habe nix auf der Hand. Da habe ich doch auf dem Arbeitsmarkt überhaupt keine Chance“, meint der Jungunternehmer. Zusätzlich belastend: Seit dem Tod des Vaters ist Ercans Familie auf sein Gehalt angewiesen. „Hätte ich den Schulabschluss vorher gemacht, hätte ich jetzt keine Kopfschmerzen“, stöhnt er.

Doch geht es ihm besser als vielen seiner ehemaligen Freunde: „Einige sind Junkies, Drogendealer, Diebe. Einer wurde erschossen, ein anderer abgeschoben. Nur wenige haben ihren Schulabschluss gemacht und Arbeit gefunden.“ Er zuckt resigniert mit den Schultern. Mit seinem „dreckigen Umfeld“ von früher hat er abgeschlossen und erkannt, dass es auch anders geht. „Ich will nur noch arbeiten und meine Ruhe haben.“ Und vielleicht den Schulabschluss nachholen und doch noch den Meister machen, als Wärme-und-Kälteschutz-Isolierer.

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