Kleine Mäuse mit großer Zukunft

Der Stadtsportverein Gera, in der DDR Heimstatt diverser Radsportgrößen, fiel nach der Wende in ein „Riesenloch“,betreibt aber heute wieder erfolgreiche Nachwuchsarbeit und ist Anziehungspunkt nicht nur für Talente aus Thüringen

aus Gera FRANK KETTERER

Erek ist schon neun, und mit dem Fahrradfahren angefangen hat er zu Hause im Hof, immer im Kreis herum ist er da geradelt. Irgendwann ist der Hof dann zu klein geworden oder auch die Kreise zu groß, auf jeden Fall hat es nicht mehr gepasst – und deshalb sind die Eltern mit Erek zum SSV Gera gegangen, zur Radrennbahn, die ein bisschen abseits liegt von der Stadt auf einer kleinen Anhöhe. Dort ist genügend Platz für den Filius und seine Kreise, die er nun zweimal in der Woche zieht, immer dienstags und donnerstags. Ein richtiges Rennrad gibt man ihm dafür sogar und natürlich einen Helm – und wenn Erek damit um die Bahn kreiselt, sieht das schon richtig schnittig aus. „Vor allem die steilen Kurven mag ich“, verrät der radelnde Dreikäsehoch – und Erik Zabel, den er immer im Fernsehen kuckt. Und wer weiß, vielleicht wird aus Erek ja selbst einmal ein kleiner Erik.

Natürlich ist es bis zum grünen Trikot noch ein weiter Weg für den jungen Mann, bisher ist er ja nur eine der „kleinen Mäuse“ beim SSV. Kleine Mäuse, so nennt Wolf-Dieter Lampke die Kinder, die zu ihm und dem Stadtsportverein Gera kommen, um das Abc des Rennradfahrens zu erlernen. Bremsen, Schalten, Hinterradfahren, solche Dinge eben. Andererseits hat in Gera schon mancher so klein angefangen wie jetzt Erek – und ist am Ende ein Großer geworden. Wenn Erek die Lust am Kreisedrehen nicht verliert, stehen die Chancen nicht schlecht, dass er in ein paar Jahren tatsächlich den ein oder anderen Titel gewinnt, den des thüringischen Landesmeisters zum Beispiel oder des Süddeutschen Meisters oder des Deutschen Meisters oder, wer weiß, vielleicht sogar noch mehr. So wie Michael Seidenbecher zum Beispiel, der 2001 Deutscher Meister bei den Junioren wurde und Dritter bei der WM im Sprint. Oder wie Barth Damrow, vor einem Jahr deutscher Jugendmeister in der Mannschaftsverfolgung. Oder wie Marcel Barth, Gert Seifert und Kai Böhm. Alle thüringische Meister 2001 in der Jugend- und Schülerklasse.

Masse mit Klasse

Es ist keineswegs Zufall, dass der SSV Heimstatt so vieler junger Talente ist, sondern jede Menge Arbeit steckt dahinter. In Gera gibt es Trainingsgruppen von der U 11 bis zur U 23, jede mit eigenem Trainer oder eigener Trainerin, sechs an der Zahl insgesamt, davon zwei hauptamtliche. „Nachwuchsarbeit wird bei uns groß geschrieben“, sagt SSV-Geschäftsführer Reinhard Schulze. Rund 70 der 364 Mitglieder sind als Nachwuchssportler aktiv. Und weil beim SSV eben nicht nur die Masse, sondern auch die Klasse stimmt, wurde der Verein mit dem Grünen Band für vorbildliche Talentförderung ausgezeichnet (siehe Kasten).

Dabei ist Nachwuchsarbeit ein hartes Brot geworden, weil es heutzutage nicht mehr leicht ist, junge Leute für etwas zu begeistern – und sie dann auch noch bei der Stange zu halten. Früher war das in Gera jedenfalls noch viel einfacher. Damals, als der Verein noch SG Wismut Gera hieß und unter diesem Gütesiegel DDR-Radsportgeschichte schrieb, man denke nur an Olaf Ludwig, wurden die Talente aus der Umgebung einfach an den Verein weiterdelegiert. Heute muss sich der SSV den Nachwuchs selbst suchen, auch in Gera grast man dafür die Schulen ab und macht Werbung, das Radergometer gleich mit im Gepäck. „Da kann man schon mal vorab aussieben“, sagt Gerald Mortag, sowas wie der Cheftrainer des SSV und selbst Geraer Radsportgröße von einst. Soll heißen: Wer in der 3. oder 4. Klasse die 1.000 Meter unter zwei Minuten strampelt, wird prinzipiell für gut befunden – und zum Training eingeladen. 500 bis 600 Schüler pro Winter testet der SSV so auf ihre Radsporttauglichkeit, „zwischen vier und sechs pro Jahr bleiben hängen“, erzählt Mortag. „Das ist ein Riesenaufwand. Aber anders ist es eben schwierig, an die jungen Leute heranzukommen“, fügt der Trainer hinzu, bei den Werbetouren durch die Schulen kommt er sich bisweilen vor „wie ein Staubsaugervertreter“. Vielleicht sind ihm auch deshalb die Jungs und Mädels am liebsten, „die von alleine kommen“, einfach aus Lust und Spaß am Radfahren, so wie Erek.

Dabei hat es der SSV noch gut, eben wegen seiner ruhmreichen Geschichte. Zwar fiel auch der Verein nach der Wende in „ein Riesenloch“, wie Reinhard Schulze es formuliert, schon weil Geldgeber Wismut, zuvor „ein Fass ohne Boden“ (Schulze), plötzlich wegfiel; geblieben aber war das Know-how. „Ausstattung und Sportler waren ja nach wie vor vorhanden“, erzählt Schulze, den Rest haben sie nach und nach „auf privatwirtschaftliche Beine“ zu stellen versucht. Es ist gelungen, der SSV kann über mangelnde Sponsoren, laut Schulze „alles starke Partner“, nicht klagen, außerdem greift ein Radsport-Förderkreis bisweilen hilfreich unter die Arme. Selbst Oberbürgermeister Ralf Rauch gilt als radsportbegeistert, der Vereinsvorsitzende Wolfgang Reichert wiederum ist Vorstandsvorsitzender der Stadtsparkasse.

Was die sportlichen Belange angeht, hat man beim SSV versucht, das Ausbildungs- und Fördersystem von einst zu retten. „Natürlich ist das hier noch ein bisschen DDR-Sport“, sagt Reinhard Schulze, was heißen soll: Es wird auf einen soliden Aufbau und eine kontinuierliche Entwicklung in den verschiedenen Altersklassen geachtet, die im besten Fall in das Bundesliga-Team des SSV, das Team Köstritzer, führen soll – und damit an die Schwelle des Profitums.

Ballung der Talente

Durch den Umstand, dass Mortag auch leitender Trainer des Landesstützpunktes Gera ist, ballen sich beim SSV die Talente fast wie einst. Zwar muss nicht automatisch für den SSV starten, wer am Landesstützpunkt und bei Mortag trainiert, de facto aber ergibt sich das mit der Zeit meist von selbst: Rund 90 Prozent der Kaderathleten werden vom SSV gestellt, derzeit 27 an der Zahl. „Ein großer Verein kann einfach mehr für einen Sportler tun als ein kleiner“, findet Schulze.

Der SSV ist einer der größten Radsportvereine Thüringens und kann somit am meisten für die jungen Pedaleure tun. Das umfasst nicht nur Material, Kleidung oder Zuschüsse für Trainingslager, sondern vor allem eine leistungssportgerechte Infrastruktur: Der Sportkomplex Vollersdorferstraße, wo auch die Geschäftsstelle des SSV untergebracht ist, beherbergt nicht nur die Praxis eines Sportarztes, zwei Krafträume, eine Sporthalle sowie eine Sauna, sondern auch ein Internat, das sich in städtischer Trägerschaft befindet. Zwölf Athleten, davon acht Radsportler, wohnen und leben dort für 65 Euro Miete im Monat. Für die Verpflegung müssen sie selbst sorgen, das Kasernenambiente der ehemaligen Dynamo-Sportschule ist im Preis inbegriffen, ebenso wie die Betreuung durch zwei Sozialarbeiterinnen. Für den SSV bietet das Internat die Möglichkeit, auch talentierte Nachwuchsfahrer, die nicht aus Gera oder der näheren Umgebung kommen, an sich zu binden; mittlerweile gibt es selbst aus dem Westen der Republik Anfragen. „Wir haben eben einen guten Ruf als Talentschmiede“, sagt Reinhard Schulze nicht ohne Stolz, das zieht an wie ein Magnet. Zumal der Verein auch das berufliche und schulische Fortkommen seiner Schützlinge nicht aus dem Auge verliert. „Wir achten darauf, dass sie so lange wie möglich zur Schule gehen, das ist das Beste“, sagt Schulze, der selbst mal Lehrer war. Schließlich kann eine solide Ausblidung nicht schaden – nur für den Fall, dass es doch nicht klappen sollte mit Erek und dem grünen Trikot.