„Was haben die oben gejohlt“

Radsport-Idol Otto Ziege gehört zum Berliner Sechstagerennen, egal ob es im Sportpalast, in der Deutschlandhalle oder im Velodrom stattfindet. Seit über 50 Jahren ist er dabei. Mal war Ziege Lokalmatador, mal sportlicher Leiter, mal ewiger Zweiter

Interview WALTRAUD SCHWAB

taz: Herr Ziege, Sie sind Tankwart und einmal im Jahr ein wichtiger Berliner. Wer aber kennt Sie?

Otto Ziege: Ich nehm mal an, doch recht viele Berliner. Ich war Radrennfahrer, deutscher Straßenmeister bei den Berufsfahrern. Dann war ich im Sportpalast beim Sechstagerennen Lokalmatador. Später wurde ich Bundestrainer der Straßenfahrer. Ich hab die Olympiaden Tokio und Mexiko gemacht, und so geht das weiter neben meiner Tätigkeit hier auf der Tankstelle.

Ihr Name ist der rote Faden im Berliner Radsport?

Ja. Eines Tages sag ich: „Jetzt ist Schluss.“ Aber vor acht Jahren ging das Telefon wieder, und da war Heinz Seesing aus Münster dran. „Sagen Sie mal, wenn ich nach Berlin kommen würde, Sechstagerennen, würden Sie mir helfen?“

Er meinte das Rennen im Velodrom, das in aller Munde ist?

Ja. Ein Wunder, dass das Sechstagerennen in Berlin heute wieder so einen Publikumszuspruch hat, wo wir ja weg waren. Jahrelang gab es keins mehr nach der Pleite in der Deutschlandhalle. Aber jetzt im Velodrom: so eine tolle Atmosphäre, so ein Erfolg. Fast wie damals im Sportpalast. Jeder ausländische Fahrer sagt: „Berlin ist die Nummer eins. Von der Stimmung her super.“

Sie sind die Seele von dem Ganzen. Wie wird man das?

Indem man von der Pieke auf mitgemacht hat als Rennfahrer. Deshalb kann ich den Fahrern heute auch sagen, was sie besser machen müssen. Für so ne Kritik hab ich von Didi Thurau, der Name sagt Ihnen doch was, mal ne richtige Schelle gekriegt. Das war bei einem Rennen in der Westfalenhalle in Dortmund. Ich war dort sportlicher Leiter.

Wie das?

Ich sage zu den Fahrern: „Letzte Nacht war das Haus voll, aber die Arbeit hätte man ein bisschen besser machen können.“ Wie ich das so sage, steht der Didi auf und geht raus. Um 14 Uhr kommt jemand und sagt: „Thurau gibt auf.“ Unser Star war das. Na gut, er hört auf. Daraufhin sperrt der Chef der Halle allen die Gage. Na prima. Nachmittags gehe ich runter in die Rennfahrerkabinen. Thurau sieht mich und gibt mir ne Schelle. Großes Theater. „Thurau schlägt den Sportleiter.“

So wird man die Seele von einer Veranstaltung?

Ja, indem man es miterlebt, dabei glaubwürdig bleibt und trotzdem vollen Einsatz zeigt. Man muss die Leute achten, selbst wenn man sie kritisiert, und man muss ein Ziel haben. Das beherzige ich auch hier bei meiner Arbeit auf der Tankstelle. Diese Haltung wird belohnt. Wir bekommen jeden Monat die Umsatzstatistiken von 22 Esso-Stationen. Wir liegen mit dem kleinsten Shop, 38 Quadratmeter, immer an zweiter oder dritter Stelle. Das ist dann wie ein Rennergebnis.

Seine Frau kommt in das Kabuff hinter dem Tankwartraum, in dem Ölbüchsen, Cola-Flaschen und Akten gestapelt sind. „Hallo, mein Schätzchen“, sagt er. In diesem Moment klingelt das Telefon. Ein Fahrer ruft an und fragt, ob er eine höhere Gage haben kann.

Von 49 bis 56 sind Sie selbst Sechstagerennen gefahren?

„Mir müsst ihr nichts erzählen vom Arbeiten“, sag ich den Fahrern heute. Wir konnten ja damals nur drei Stunden schlafen.

Wie kann man sich für so eine Schinderei erwärmen?

Das war der Beruf. 1949 habe ich dieses damals hübsche Mädchen, das Sie eben gesehen haben, beim Radrennen kennen gelernt, 1949 haben wir geheiratet, 1949 war ich deutscher Straßenmeister. Und 1950 kam die Zeit, dann mit den Sechstagerennen. Zuerst habe ich mich sehr ungeschickt angestellt. O Gott, o Gott. Wir fuhren damals in der Halle am Funkturm bis der Sportpalast repariert war. Das war ne ganz kleine Bahn, die Kurven sehr eng. Wer fiel, hatte oft Schädelbruch. Wir hatten drei Todesstürze in zwei, drei Rennen. Rudi Mirke, Paul Kroll und Ari van Beek.

Das hat Sie nicht abgeschreckt?

Ich war Berliner. Ich war Radrennfahrer, musste Geld verdienen, war verheiratet. So kommt man dazu, und nachher macht es natürlich Spaß.

Spaß?

Die Zeit läuft beim Rennen ganz schnell, und jeder hat mit sich selbst zu tun. Müde. Erschöpft. Ich saß oft vor der Koje und hab versucht, mit einem Löffel Haferschleim mein Leben wieder in Gang zu kriegen. So kaputt. Aber das ist einfach so. Ich hatte ne Roleiflex und die stand auf der Koje wie mein Dopingmittel. Ich wollte eigentlich mal Pressefotograf werden. Hab keinen Lehrvertrag gekriegt. Aber die Liebe blieb immer bei der Fotografie. Wenn ich die Roleiflex gesehen hab, hab ich mich so gefreut, dass es wieder ging.

Sie sind 38 Sechstagerennen gefahren, haben aber kein einziges gewonnen?

Beim letzten mit Fernando Teruzzi bin ich auch wieder Zweiter geworden. Wir wollten wirklich gewinnen. Nein, wir sind wieder Zweiter geworden.

Trotzdem waren Sie Lokalmatador und Frauenliebling.

Ich hab verstanden, dass man für das Publikum da sein muss und die Arbeit und Leistung gut verkaufen soll wie jeder Künstler. Wie jeder Tankwart.

Das Sechstagerennen im Sportpalast muss was Tolles gewesen sein?

Außergewöhnlich. Diese Jagden auf dem Parcours. Wenn einer raus aus dem Sattel geht, losfährt, die anderen hinterher. Faszinierend. Diese Stimmung von oben, vom „Heuboden“ aus, mitzuerleben, war toll. Und unten in den Logen saßen die Schauspieler. Mitunter hat einer geschrien: „Eine Tonne Bier für den Heuboden!“ Was haben die oben gejohlt. Richard Tauber hat seine Arien dazu geschmettert. Im Innenraum spielte Otto Kernbach den Sportpalastwalzer. Irre Geschichte, tolle Stimmung. Heute noch ein Jammer, dass dieses Haus abgerissen wurde.

Dem Haus hing Kriegsgeschrei an.

Das auch. Goebbels wollte da den totalen Krieg. Jawohl, hat er gekriegt.

Wie sind Sie zum Radrennsport gekommen?

Ich wohnte in Charlottenburg und die Jungs fuhren alle Rad. Einer hat seine Rennmaschine für 75 Mark verkauft. Ich hab morgens Schrippen ausgetragen und mir das Geld dafür zusammen gespart. Danach haben die Jungs gesagt: „Trete mal hier in den Verein ein. Germania.“ Zu der Zeit begann meine Ausbildung als kaufmännischer Lehrling bei der Deutschen Bau AG. Ich dachte: „Was kannst du jetzt für deine Radfahrerei machen?“ Da habe ich auf Arbeit zwischendurch im Badezimmer tausend Kniebeugen gemacht. Hundert. Wieder hundert. Wieder hundert. Das hat mir die Muskelkraft gegeben. Auf einmal hab ich die Rennen gewonnen, wurde vierfacher Jugendmeister.

Das war zur Nazizeit. Wurde das auch gefördert?

Nazizeit ja, aber gefördert wurde das nicht. Dann wurde ich Soldat und danach Gefangenschaft.

Wie lange waren Sie Soldat?

Eineinhalb Jahre Fallschirmjäger. Vorher ein halbes Jahr Arbeitsdienst. Ich komme nach Hause, „Gott sei Dank vorbei“, denke ich, aber es liegt schon ein Zettel da: Fallschirmjäger. Ich war befreundet mit Sohni Kolbe. Der war auch Radrennfahrer. Wir beide kriegten den Einberufungsbefehl zur gleichen Einheit.

Hatten Sie keinen Schiss?

Da gab es nichts. Krieg. Hitler. Wer damals alles an den Laternenpfählen hing! Und wofür. Also rein in den Zug. Raustreten. Antreten. Ein Offizier ruft: Wer springt, wer springt nicht? Sohni sagt: „Ich springe.“ Und ich: „Ich springe nicht.“ Wir beiden Freunde lassen uns in dem Augenblick trennen. Nach drei Wochen schreibt der Sohni: „Liebe Eltern, ich hab schon drei Sprünge gemacht. Noch drei dann kriege ich die Spange als Fallschirmjäger.“ Beim vierten Sprung stürzt die Maschine ab. Und er ist tot. Ich dachte: „Jetzt spring ich erst recht nicht.“ Hab aber alles mitgemacht, die ganze Invasion in der Normandie.

Sie waren Frontsoldat? Strafversetzt?

Nicht strafversetzt, aber ich war eben da und hatte Glück, dass ich heil raus gekommen bin. Das ist wirkliches Schicksal: Zwei Freunde lassen sich trennen, keiner überredet den anderen. Sohni war ein netter Junge, nicht so erfolgreich beim Radfahren. Und dann ist er tot. So schnell.

Wie hält man das aus – Krieg?

Oh schlimm. Ich hab sie gesehen, wie sie da lagen: Kopf total verbunden. Keiner kann helfen. Ich seh noch so ein Bild vor mir, wie ich hoch springe und vor mir plötzlich ein Amerikaner. Ich war 18, 19 Jahre. Bin weggerannt wie der Teufel. Der Amerikaner hat nicht geschossen. Glück gehabt. Und dann eben Gefangenschaft, und ich bin gut weg gekommen.

Das Wirtschaftswunder haben Sie dann als Rennfahrer, und als Tankwart erlebt. Nach Ihrer aktiven Zeit waren sie Bundestrainer und sportlicher Leiter des Sechstagerennens in der Deutschlandhalle. Eine Veranstaltung, die zum Westberliner Möchtegern-Event verkam.

In der Deutschlandhalle war das Sechstagerennen wie eine Party im falschen Raum. Im letzten Jahr, 1990, wurden mit ganz viel Aufwand oben unter der Decke so politische Parolen aus der alten Zeit aufgehängt, die Komische Oper trat auf, die Philharmonie. Das hat alles viel, viel Geld gekostet. Aber es stimmte irgendwo nicht. Es war wie ein Todessturz. Am Schluss haben über eine Million Mark gefehlt, und damit war es erledigt.

Haben Sie dem Ende nachgetrauert?

Das Leben ging weiter. Ich bin immer hier auf der Tankstelle. Hier ist der Punkt, hier lebe ich.

1997 gab es dann im Velodrom den Neuanfang.

Die nicht so rühmliche Olympiabewerbung hat uns die Radrennbahn, das Velodrom, beschert. Als Seesing anruft und fragt, ob ich mitmache, sage ich: „Du, das muss das Maximum sein. Wenn das danebengeht, läuft hier für Jahre nichts mehr“. Seesing ist mutig an die Nummer ran gegangen. Deshalb freu ich mich so, dass er keine roten Zahlen schreibt. Kein Westberliner wäre gekommen und hätte in Ostberlin Sechstagerennen gemacht.

Das Sechstagerennen im Velodrom lebt von der Radsportbegeisterung der Ostberliner.

Absolut. 70 Prozent des Publikums kommt aus Ostberlin. Sie bringen das alte Flair zurück. Viele gute Fahrer kommen zudem aus der ehemaligen DDR. Jens Fiedler. Ein hervorragender Rennfahrer und Schauspieler. Oder Olaf Ludwig, Michael Hübner, Erich Zabel. Nach der Wiedervereinigung waren plötzlich solche Asse da. Das Sechstagerennen ist ein tolles Zusammenwachsen von Ost und West. An der Stelle, wo das Velodrom ist, war früher die Werner-Seelenbinder-Halle. Das war ein Kulttempel in Ostberlin. Das war ihre Winterbahn. „Winterbahn“ haben die immer gesagt. Tolle Stimmung.

Für Sie war die Maueröffnung demnach in mehrfacher Hinsicht ein Glücksfall?

Absolut. Für uns Berliner war die Mauer endlich weg. Wir haben bei Weltmeisterschaften oft die ostdeutschen Fahrer getroffen. „Kommt doch mal in die Deutschlandhalle“, sagen wir zu ihnen. „Klar“, antworten die. Aber die politischen Kräfte waren stärker, die haben sie nicht rüber gelassen. Es war schon eine doofe Zeit.

Ihr Fixpunkt bei allem war und ist die Tankstelle gewesen?

Weil ich selbstständig war, konnte sich der Radsport durch mein Leben ziehen. Wäre ich angestellt gewesen, wäre das gar nicht gegangen. Ich bin dankbar. Das war eine gute Idee. Und nun sponsert Esso sogar das Sechstagerennen.

Radsport ist also Ihr Leben?

Ja. Es ist so gekommen. Ich habe großes Glück gehabt. Auch privat. Ich sage zu meiner Frau: „Der jetzige Lebensmoment mit 76 ist eine herrliche Lebensphase. Wir leben noch, wir können uns noch bewegen, wir wissen noch, wo wir hingegen können, wir können noch tätig sein, ich kann noch Sechstagerennen machen.“ Wir gehen gerne auf die Tankstelle. Hier ist wie Theater. Ich komm neulich mit meinen Enkelinnen hierher, und in der Tür steht Brigitte Mira. Ich kenn sie auch schon lange. Sie sagt: „Schätzchen, was hast du denn da?“ Ich sag: „Du Biggi, das sind meine beiden Schätze, mein Glück.“ Und so ist es hier wie ein Zuhause.