Selbst die alten Schweden üben sich neuerdings in Demut

Noch nie zuvor gab es so viele Titelanwärter bei einer Handball-WM. Die Medaillenvergabe in Portugal könnte somit zur Lotterie werden

Titelverteidiger Frankreich wirkt oft nachlässig – und bisweilen fast schon verträumt

VISEU taz ■ Ola Lingren, mit 38 Jahren einer der Oldtimer in der schwedischen Handball-Nationalmannschaft, hat bereits eine für schwedische Verhältnisse eher dunkle Vorahnung beschlichen. „Wenn wir Gold holen wollen bei der WM“, verriet der künftige Trainer von Bundesligist HSG Nordhorn dem Fachorgan Handballwoche mit ungewohnter Demut, „dann müssen wir alle wirklich topfit sein“. Die Schweden haben zwar in den letzten Jahren alles abgeräumt – zahllose WM- und EM-Titel, und auch wenn sie stets knapp am großen Traum Olympiasieg vorbeischlitterten, gewannen sie dort doch wenigstens immer eine Medaille. Auch bei der heute beginnenden WM in Portugal zählen sie selbstredend zu den Favoriten, doch hat das sonst ausgeprägte Selbstbewusstsein ganz offenbar Kratzer bekommen. Zumal das Alter der Schweden-Stars wie Magnus Wislander (38), Staffan Olsson (38), Tomas Svensson (34) oder Magnus Andersson (36) fast schon Methusalem’sche Höhe angenommen hat. Die Befürchtung in Schweden ist groß, dass nun, da sich das Spiel zuletzt enorm beschleunigt hat, die Zeit der Wachablösung gekommen ist.

Der Reiz der anstehenden WM liegt also in einer neuen Ausgeglichenheit im Welthandball. Es ist nicht mehr so, hat auch Ola Lindgren festgestellt, „dass nur Frankreich, Russland oder Schweden zu den Favoriten gehören, sondern auch Dänemark, Deutschland, Jugoslawien und Kroatien“. Wie für viele andere Teams auch, zählt für ihn deswegen „zunächst nur die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Athen 2004“. Ein 7. Platz also. Ein solch bescheidenes Ziel verrät die neue Bescheidenheit der alten Schweden. Nur Magnus Wislander, „Handballer des Jahrhunderts“, vertraut weiterhin auf die große Routine seiner Mannschaft. „Mentale Stärke“, sagt er, „kann man nicht trainieren.“

Ob die Erfahrung ausreichen wird gegen jugendliche Leidenschaft und körperliche Fitness auf höchstem Niveau, wird sich für die Schweden schon im Gruppenspiel gegen die von vielen als Geheimtipp gehandelten Dänen zeigen. Dänemark, durch Lars Christiansen, Sören Stryger, Lars Krog Jeppesen und Joachim Boldsen gleich mit vier Spielern der SG Flensburg bestückt, ist seit Monaten in bestechender Form. Die Stärke der Dänen liegt in ihren schnellen Tempogegenstößen, und sie sind aufgrund ihrer guten physischen Verfassung immer in der Lage, über einen längeren Zeitraum hinweg mit der „schnellen Mitte“ operieren zu können, dem direkten Wiederanwurf nach einem Gegentor. „Wir sind hungrig auf eine Medaille“, formuliert Christiansen deswegen selbstbewusst das Ziel der jungen Mannschaft Dänemarks.

Doch hat es auch im Handball in der Vergangenheit oft Teams gegeben, die mit einer beunruhigend starken Frühform zur WM angereist und dann schwer abstürzt sind. Die Russen beobachten die vielen Vorbereitungsturniere deswegen mit großer Gelassenheit, daran beteiligt haben sie sich fast schon traditionell nicht. Lieber trainierten sie zu Hause in aller Zurückgezogenheit ihre verschiedenen Abwehr- und Angriffssysteme, dass die noch nicht so ganz funktionieren, zeigte sich allerdings bei der 27:34-Niederlage gegen Deutschland am Freitag in Dortmund (siehe obenstehenden Bericht), dem einzigen ernsthaften Test der Russen. Nach enttäuschenden Resultaten bei der WM 2001 (6.) und EM 2002 (5.) will die russische Mannschaft „jetzt wieder ganz nach vorne“, wie nicht nur Bundestrainer Heiner Brand glaubt, dennoch kommt für viele Experten Russland als Weltmeister nicht in Frage, und das gleich aus mehreren Gründen: Zum einen fehlt der Mannschaft Oleg Kuleschow, weil der brillante Spielgestalter in Diensten des SC Magdeburg endlich seine vielen Verletzungen auskurieren will. Dazu scheint der Leistungszenit von langjährigen Stützen wie Aleksander Tutschkin (38) oder Torwart Andrej Lawrow (41) überschritten. „Das Team“, sagt Insider Juri Chewtsow, Trainer bei TuSEM Essen, „befindet sich zur Zeit im Umbruch, alles zielt bereits auf Athen 2004.“ Auch für die Russen, die sich schon in ihrer Vorrundengruppe mit Ungarn, Frankreich und Kroatien auseinander setzen müssen, zählt deswegen nur die Olympiaqualifikation.

Stärker einzuschätzen ist da ohne Zweifel Weltmeister Frankreich, obwohl das Team um den virtuosen Mittelspieler Jackson Richardson nach dem Titel im eigenen Land vor zwei Jahren ebenfalls einen sanften Verjüngungsprozess hinter sich hat. Oft wirkt das Team, das außerdem getragen wird vom Weltklasse-Kreisläufer Bertrand Gilles (HSV Hamburg) sowie Jerôme Fernandez im Rückraum, nachlässig und fast schon verträumt, in den entscheidenden Momenten jedoch zeigt es Entschlossenheit und Nervenstärke.

Zum erweiterten Favoritenkreis bei der WM auf der Iberischen Halbinsel zählen die wieder erstarkten Jugoslawen sowie traditionell die stets spielstarken Spanier und Kroaten. Die Medaillenverteilung in Portugal wirkt angesichts der vielen Titelanwärter im Vorfeld fast wie eine Lotterie. ERIK EGGERS