Politiker scheuen die Straße

In den Niederlanden wird am Mittwoch ein neues Parlament gewählt. Die großen Parteien profitieren vom Absturz der rechtspopulistischen Fortuyn-Partei. Die Sozialdemokraten legen stark zu

von HENK RAIJER

Hollands Politprofis haben ihre Lektion gelernt. Die Zeit bis zu den vorgezogenen Neuwahlen am Mittwoch hätte für einen längeren Wahlkampf ohnehin nicht gereicht. So schenkten sich diesmal die Spitzenkandidaten die Ochsentour durch die Provinz und machten es wie Pim Fortuyn: Sie gingen ins Fernsehstudio. Der mediale Erfolg des Rechtspopulisten, der die Niederlande im Vorfeld des letzten Urnengangs im Mai 2002 mit seinen systemkritischen und ausländerfeindlichen Sprüchen aufs Heftigste polarisierte, dann aber kurz vor den Wahlen ermordet wurde, hat die Wahlkampfmanager der großen Parteien gelehrt: Eine TV-Debatte, in der der eigene Kandidat vor einem Millionenpublikum punkten kann, erzielt weit mehr Effekt als der Nahkampf mit dem Wahlvolk.

Zehn Millionen Niederländer haben am 22. Januar die Wahl zwischen 44 Parteien, darunter auch die „Lijst Pim Fortuyn“ (LPF), deren Inkompetenz und Postenschacher die Mitte-Rechts-Regierung aus Christdemokraten (CDA), Rechtsliberalen (VVD) und LPF im Herbst an den Rand der Handlungsunfähigkeit gebracht hatte. Premier Jan Peter Balkenende (CDA) nahm damals das „Affentheater“ in der Fortuyn-Partei nur zu gern zum Anlass, die Koalition mit dem ungeliebten Partner schon nach drei Monaten platzen zu lassen.

Während sich Balkenende zu einer möglichen Neuauflage der Koalition mit der LPF zunächst nebulös äußerte („die LPF hat an Glaubwürdigkeit eingebüßt“), haben jüngste Umfragen dafür gesorgt, dass sich der potenzielle Wahlsieger wohl oder übel damit anfreunden müsste, die LPF doch wieder mit ins Boot zu nehmen, obwohl diese von ihren 26 Sitzen nur 6 übrig behalten dürfte. Die zu Beginn des Wahlkampfs errechnete knappe Mehrheit für CDA und VVD (77 von 150 Sitzen) scheint dahin zu sein.

Wer wird denn nun vom Absturz der desavouierten zweiten Garde Fortuyns profitieren? Eindeutig die „Großen“. Balkenendes CDA (bisher 43 Sitze), wird jüngsten Umfragen zufolge auf 44 klettern, Koalitionspartner VVD (24) auf 26. Überraschend stark zugelegt haben die Sozialdemokraten (bisher 23 Sitze). Die PvdA hat sich vom Schock des letzten Frühjahrs erholt. Ihr werden 40 Sitze zugetraut. Die Partei von Expremier Wim Kok wäre damit zweitstärkste Fraktion. Sollte sie am Ende gar als Sieger aus den Wahlen hervorgehen, wäre Job Cohen, Bürgermeister von Amsterdam, ihr Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. Bei den Grünen (GroenLinks, 10) und der linksliberalen D66 (7) bleibt es in etwa beim alten Ergebnis. Mächtig zulegen könnten die Sozialisten (bisher 9). Der SP des beliebten Jan Marijnissen werden 16 Sitze in Aussicht gestellt.

Haben also die 1,6 Millionen Niederländer, die vor acht Monaten Pim Fortuyns Forderungen nach radikaler politischer und gesellschaftlicher Erneuerung unterschrieben, ihr Vertrauen in das politische Establishment nach kurzer Zeit wiedererlangt? Oder haben die Wähler resigniert? Klar ist nur, dass die von vielen geforderten Reformen im Schul- und Gesundheitswesen, beim Verkehr und im Strafvollzug, in der Asylpraxis und der Bürokratie auf der Agenda wieder weiter unten rangieren.

Weil sie aus der Konfrontation mit dem Mediengenie Fortuyn immerhin gelernt haben, wie man sich verkauft, haben Sozialdemokraten und Rechtsliberale neue Leute ins Rennen geschickt. Anders als der CDA – Jan Peter Balkenende (46) kann offenbar nichts falsch machen, obwohl er nichts Vorzeigbares zuwege gebracht hat – haben beide großen Parteien ihre Kandidaten ausgewechselt. Die VVD hat den grundsoliden Bürokraten Hans Dijkstal gegen den agileren Gerrit Zalm (50) ausgetauscht, die Sozialdemokraten haben Wouter Bos als Frontmann nominiert. Der 39-jährige Ökonom hat sich politisch noch nicht manifestiert – was in der Post-Fortuyn-Ära eher für ihn spricht. Er gilt in der PvdA als holländischer Tony Blair, der die Partei nicht nur zurück an die Macht bringen, sondern auch organisatorisch, ideologisch und programmatisch entrümpeln soll.

Als Koalitionspartner käme die PvdA, sollte sie am Mittwoch zweitstärkste Fraktion werden, durchaus in Frage. Aber der designierte Wahlsieger macht aus seiner Präferenz kein Geheimnis. Er könne sich eine Koalition mit den Sozialdemokraten vorstellen, sagte Balkenende gestern, diese böten jedoch in Sachen Wirtschafts- und Sozialpolitik „nur Althergebrachtes. Wenn es um eine solide Finanzpolitik geht, brauche ich nicht lange nachzudenken, mit wem ich regieren muss: mit der VVD.“