Volkstribun mit Blickkontakt

„Endlich wird mein Ohr wieder gefickt“: André Galluzzi hielt als Resident-DJ und Attraktion des Ostguts Menschen nächte- und tagelang am Tanzen; bis zu 14 Stunden am Stück. Nach einem neuen Club sucht er erst, wenn es kein neues Ostgut geben sollte

„Da ist mir manchmal der Schweiß von den Händen auf die Platten getropft“

von TILMAN BAUMGÄRTEL

Das Ostgut wurde zwar vor mittlerweile drei Wochen geschlossen, doch noch immer vergeht kein Tag, an dem nicht einige Nachtschwärmer ihre Trauer über den Verlust des Clubs im Internet dokumentieren: „Was wir im Ostgut erlebt haben, ist für Menschen, die nie dort gewesen sind, wohl nicht nachvollziehbar. Eine Schöpfung aus Wahnsinn, Lust und Schmerz, aus Liebe und maßlosem Sex, bizarren Substanzen und Ekstase. Eine Schöpfung, die ohne geniale Inspiration nicht möglich gewesen wäre. Ein eigenes Universum. Anarchie. Immer ganz oben. Immer bis an die Grenzen. (…) Das Ostgut war wie der Turmbau zu Babylon. Ein ehrgeiziges Projekt, am Ende doch zu Fall gebracht von kleingeistig-pietistischen Gemütern aus dem Norden Amerikas.“ Andere halten wehmutsvoll ihre Erinnerungen fest: „Bisher habe ich keinen anderen Ort gefunden, wo man die Brüste einer wunderschönen Frau in den Händen halten darf, während man sich mit ihr und ihrem Lover über Sprachphilosophie, mittelalterliche Baukunst und das Paarungsverhalten von Tintenfischen unterhält, derweil auf den Sesseln gegenüber sich zwei Tätowierte im Rentenalter mit stundenlanger Hingabe gegenseitig einen blasen und im Hintergrund die göttlichste, ausgeklügeltste und herzenzersprengendste Musik der ganzen weiten Welt tobt.“

Das Gästebuch des Ostguts ist zu einem beeindruckenden Dokument der Berliner Clubkultur geworden. Wer einmal angefangen hat, darin zu lesen, fühlt sich berührt. Ein Name taucht immer wieder auf, wenn die Nächte und darauf folgenden Tage im Ostgut beschrieben werden: „André“: „Laberstunden (gern mit netten Wildfremden) in durchgesessenen Sofas, Durch-die-Gegend-laufen-und-die-anderen-suchen, einen ausgeben, zu Andrés Musik tanzen und grinsen, ausruhn, durch pitschnasse Klos stapfen, wieder tanzen müssen und irgendwie glücklich sein …“

„André“, damit ist André Galluzzi gemeint, der als Resident-DJ des Ostguts mehrere tausend Menschen nächte- und tagelang am Tanzen gehalten hat. Denn Galluzzi war mehr als ein DJ, er gehörte zu den Attraktionen des Clubs. Zwei- bis dreimal pro Monat, mindestens acht Stunden, meist länger, legte er dort Platten auf, dann schleppte er gegen Morgen seine beiden Plattenkoffer noch in den Garten des Ostguts. In den kamen zwar nach einem Ostgut-Spruch „nur die Harten“. Doch obwohl er direkt an der Berliner Bahntrasse lag, hatte er im Sommer etwas von einer Oase. Und da spielte er dann für den beginnenden Tag noch mehr Musik, nun ein bisschen sanfter als in der Partyhölle auf dem Mainfloor, bis er endgültig nicht mehr konnte und die letzte Platte auflegte. Und dann, nach Bitten und Betteln seiner Fans, noch eine letzte Platte. Und noch eine. Und noch eine.

Im Internet-Gästebuch des Ostguts schreibt einer: „Galluzzi kommt!!! Wann spielt er??? Was zieh ich an??? Sind meine Haare so o.k.??? Endlich wird mein Ohr mal wieder gefickt!!!“ Und ein anderer: „Mit der Musik vom Meister Galluzzi selbst im Ohr vergingen die Stunden, ohne dass man das so wirklich mitbekommen hat. Plötzlich war Sonntagabend …“

„Das musst du unbedingt schreiben, dass ich mich bei all den Super-Leuten bedanke, die mich im Ostgut so unterstützt haben.“ Das sagt André Galluzzi dreimal während unseres Interviews und sieht mir dabei direkt in die Augen. Er sieht einem überhaupt oft in die Augen. Denn André Galluzzi geht es um den direkten Kontakt mit seinem Gegenüber, egal ob es ein Interviewer oder eine Meute feiernder Menschen ist. „Kleine Party-Sau“ nennt man in ihn einer Eintragung im Gästebuch des Ostguts liebevoll.

Andere Berliner DJs suchen lediglich den Blickkontakt mit den Etiketten auf ihren Platten. Auf der Tanzfläche sieht man von ihrem nach vorne über das Mischpult gebeugten Gesicht nur die Haarsträhnen, die ihnen in die Augen hängen. Im Vergleich dazu ist André Galluzzi ein Volkstribun, der gerne mal ein Bad in der Menge nimmt: „Wenn ich aufs Klo musste, habe ich eine lange Platte aufgelegt, bin quer über die Tanzfläche gegangen und habe ein bisschen mit den Leuten gefeiert.“ Wenn er es hinter den Plattentellern vor Vergnügen über den eigenen Mix gar nicht mehr aushielt, drehte er kurz die Musik runter, und brüllte seinen Schlachtruf über die Tanzfläche.

Wenn man ihn am hellen Nachmittag darauf anspricht, scheint ihm das kurz peinlich zu sein, den Ruf kann er jetzt auch nicht nachmachen, aber dann sagt er: „Für mich ist Plattenauflegen eben auch Entertainment.“ Doch wie eine „kleine Partysau“ sieht er eigentlich nicht aus, als er mir an einem Tisch in einem Café in Mitte gegenübersitzt. Da haben wir einen jovialen Menschen, der pünktlich zu unserer Verabredung eintrifft und einen sofort in ein Gespräch verwickelt. Zwar murmelt er beim Eintreffen standesgemäß etwas von „nur drei Stunden Schlaf“ und dass es gestern „beim Geburtstag eines Freundes spät geworden“ sei, bevor er sich von der Kellnerin ein Glas puren Zitronensaft bringen lässt, den er sich zum Wachwerden in einem großen Schluck heruntergießt. Aber bei der folgenden Fotosession im eisigen Café-Garten lässt er sich geduldig in der winterlichen Kälte herumschieben. Und bei unserem anschließenden Gespräch wird vor lauter Auskunftsfreude sein Essen kalt.

„Dass Ostgut war definitiv der Club, der mich inspiriert hat, das Letzte zu geben“, erzählt Galluzzi. „Manchmal habe ich über zehn Stunden aufgelegt.“ Sein Rekord war die Silvesterparty 2002/2003, bei der er 14 Stunden hinter den Plattentellern stand. Wie er das physisch ausgehalten hat? „Das möchte ich auch mal wissen. Im Ostgut war es am DJ-Pult oft so heiß wie in einer Sauna. Da ist mir manchmal schon nach wenigen Minuten der Schweiß von den Händen auf die Platten getropft. Die sind mir oft buchstäblich weggeschwommen.“

Schnell stand Galluzzi mit bloßem Oberkörper am Mischpult und mixte und mixte. Es war eine ausdrückliche Bedingung von ihm, als er erster DJ im Ostgut wurde, so lange am Stück wie möglich auflegen zu können: „In drei Stunden muss ich das, was ich sagen will, total komprimieren. Was ich mache, kann man vielleicht am ehesten mit einem Film oder einem Theaterstück vergleichen. Dafür sollen sich die Leute erst mal richtig eingrooven. Im Ostgut ging es dann erst zwischen 4 und 8 Uhr morgens so richtig zur Sache.“ Manche Clubgänger haben bei seinen Gigs acht Stunden ohne Unterbrechung getanzt. Von DJ-Tricks wie Scratchen oder Cutten hält er nichts. „Für mich ist es am wichtigsten, dass die Leute hypnotisiert werden. Wenn ich eine Platte aussuche, dann soll sie auch ganz laufen. Manche Stücke entfalten sich erst nach zwei Dritteln“, sagt Galluzzi mit unüberhörbar hessischem Akzent.

Seine DJ-Karriere hat Galluzzi 1990 in Frankfurt/Main begonnen. 1995 kam er nach Berlin, wo der 29-jährige Halbitaliener zuerst im Tresor auflegte. Später gründete er dann zusammen mit dem Musiker und Produzenten Paul Bratschitsch sein Label „Taksimusic“. Galluzzi lebt heute in Prenzlauer Berg und ist seit einem Jahr verheiratet – die Trauung fand in der Sat.1-Sendung „Sag ja“ statt.

Nach einem neuen Club, in dem er als Resident auflegen kann, sucht er bis auf weiteres nicht. In Berlin wird er darum erst mal nur noch sporadisch bei Partys zu hören sein: „Ich warte, ob die Macher von Ostgut einen Ort für einen Club finden. Erst wenn sie mir sagen, dass es definitiv kein neues Ostgut geben soll, suche ich mir eine andere Stelle als Resident-DJ.“

André Galluzzis Mix-CD „Im Garten“ ist gerade bei taksimusic erschienen. Am Freitag, 24. 1. , legt Galluzzi im Glaswerk in Alt-Stralau auf