Die Toten sind unter uns

Unglaublich schöne Musik da drüben: Achim Freyer inszeniert Tschaikowskys „Eugen Onegin“ mit Villazón an der Staatsoper, Sebastian Baumgarten Mozarts „Requiem“ an der Komischen Oper

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Rolando Villazón kann wieder singen, vielleicht sogar besser als je zuvor. Man merkt ihm den Schock des Versagens noch an. Er will nicht mehr überwältigen, dankbar, dass es ihm wieder möglich ist, tastet er sich heran an den Klang seines Organs, hört sich selbst zu, wagt den nächsten Schritt, und ganz allmählich beginnt die Stimme zu leuchten. Es ist nicht mehr – oder noch nicht – der strahlende Glanz des Superstars, eher ein Glanz, der von innen zu kommen scheint, geschmeidig sich einfügend in das Ensemble und die Begleitung des Orchesters.

Schön zu hören, dass es da einem gelang, den Gesetzen des Geschäfts zu entkommen und zurückzukehren zur Musik. Zu einer Musik allerdings, die nicht allzu hohe Anforderungen stellt. Die Staatsoper hat sich den Luxus geleistet, den Star für die Nebenrolle des Lenski in Tschaikowskys lyrischer Oper „Eugen Onegin“ zu verpflichten. Daniel Barenboim und seine Staatskapelle begleiten ihn geradezu liebevoll, Roman Trekel in der Titelrolle und die Russin Anna Samuil als Tatanja sind feste Stützen an seiner Seite. Rundum umsorgt also kann Villazón seine ersten Schritte gehen, auf dem Weg zurück zu den ganz großen Rollen.

Trotzdem endete die Premiere im Tumult. Es lag nicht an Villazón, nicht an Barenboim und natürlich auch nicht an René Pape, der zum Schluss mit der großen Arie des Fürsten Gremin eine Demonstration seiner vollendeten Gesangskunst gab, es lag an Achim Freyer, dem Regisseur und Bühnenbildner. Gut die Hälfte des Publikums war entschieden der Meinung, dass man diese Oper auf keinen Fall so inszenieren dürfe. Mit dem Zwischenruf auf offener Szene: „Es geht um Leidenschaft, Herr Freyer, nicht um Langweile“, fasste einer den Volkszorn zusammen.

Geht es wirklich darum? Nein, sagt Freyer in der Tat und hat alle Argumente auf seiner Seite. Eugen Onegin ist ein konstruierter Roman unechter Gefühle und verpasster Liebschaften. Freyer hat daran gar nichts zu kritisieren, nur ersetzt er die Erzählung der Ereignisse durch ihre Struktur, die er von Anfang bis Ende als simultane Konfiguration von Spielfiguren ins Bild bringt. Grotesk leichenhaft geschminkt sind sämtliche Personen ständig zu sehen, trippeln in Weiß beschmierten Anzügen hin und her, lassen vor Aufregung Stühle rotieren, vollführen in extremer Slow Motion abgezirkelte Bewegungen. Wunderschöne Abstraktion einer Geisterwelt sind zu sehen, nichts sonst geschieht.

Man kennt das von Freyer seit Langem, überraschend jedoch ist, dass Tschaikowskys gefällige Musik ein ebenso geisterhaftes Eigenleben zu führen beginnt. Befreit vom Ballast der Gefühle sind auch ihre Binnenstrukturen hörbar: Ein polyphones Arrangement von schönen Tönen und schönen Bildern, das für sich allein schwebt und irgendwann endet – einfach weil die Musik zu Ende ist.

Struktur also statt Gefühl, auf Achim Freyer ist noch immer Verlass. Wirklich Neues jedoch gab es erst am Sonntag in der Komischen Oper zu sehen, nämlich gar keine Oper, sondern Mozarts „Requiem“, unterbrochen, ergänzt und eben dadurch auf erstaunlich intensive Weise in Szene gesetzt von gesprochenen Theaterszenen nach einem Text von Armin Petras und Jan Kauenhoven. Die beiden haben nach Recherchen in einer Berliner Sterbeklinik „Lebenslinien“ entwickelt, wie sie es nennen. Unter der Regie von Sebastian Baumgarten spielen vier von Volksbühne bekannte Schauspieler diese alltäglichen, tragischen, auch mal verzweifelt komischen Beichten im Angesicht des Todes.

Das sind Nachrichten aus einer kalten Gesellschaft, die den Tod nur als leider unvermeidlichen Unfall kennt, aber Mozarts Musik bricht ein in diese Welt der Krankenhausverwaltungen, reißt sie auf und gewinnt eine Macht, die man selbst ihr nicht zugetraut hat. Es ist nicht mehr die sakrosankte Feierstunde an Volkstrauertagen und ähnlichen Anlässen, die da zu hören ist, sondern eine furchtbare, erbitterte Anklage gegen den Tod. Nichts ist fromm und tröstlich, radikale Forderungen vielmehr sind es, die da ebenso formvollendet wie unerbittlich in den Saal gestellt werden: Gib ihnen Frieden an diesem Tag des Zorns, da die Posaune zum Gericht ruft, lass mich bei den Guten sein, und ewiges Licht leuchte ihnen.

Einhelliger Applaus nach den knappen zwei Stunden dieser Aufführung, aber kurz, weil ihm die Erschütterung anzumerken war. Man kann danach einfach nicht jubeln. Es ist eine kulturkritische Banalität, dass wir den Tod verdrängen. Aber es stimmt nicht: ein wenig Theater, wie man es von der Volksbühne kennt, und ein Stück von Mozart, das man kaum noch hören mag, so oft ist es schon gespielt worden – und schon steht er vor uns in seiner vollen sinnlosen Endgültigkeit. So brüchig also ist die Decke der Verdrängung. Dass diese Erkenntnis ausgerechnet in der Komischen Oper zu gewinnen ist, darf man ruhig als Sensation vermerken.

Die Frage jedenfalls, wozu heute noch Opern – und dann auch noch immer dieselben – aufgeführt werden sollen, lässt sich auch so beantworten. Es müssen gar nicht Opern sein, worauf wir aber nicht verzichten können, ist die Verbindung von Theater und Musik. Sie löst Tiefenwirkungen aus, die von keinem anderem Medium erreichbar sind. Das gilt sehr wohl auch für Achim Freyer. Als ich nach seinem Onegin in der U-Bahn saß, sah ich plötzlich überall diese Tschaikowsky-Gespenster. Die Toten sind unter uns. Sie haben unglaublich gute Musik da drüben.