Die Wahrheit über das „Waldau“

Theatergründertochter Ingrid W. hat ein rücksichtloses Buch über Bremens einstmals zweitgrößte Bühne verfasst

Als 2007 „60 Jahre Waldautheater“ gefeiert wurde, suggerierte die Veranstaltung geschickt Kontinuität. Ganz so, als stünde das 1947 von Ernst Waldau weitgehend selbst gebaute Haus nach wie vor in der Tradition von „Waller Speeldeel“ und „Gröpelinger Theaterverein“. Dabei sitzt dort längst die Musical Company. „Sie hat hier ihren Headquarter“, wie auf der Homepage zu lesen ist.

Zum Glück stehen jetzt einschlägigere Quellen zur Geschichte des einstmals zweitgrößten Bremer Theaters zur Verfügung: Ingrid Waldau, Tochter des Theatergründers, hat zusammen mit Michael Kruse bei Schünemann ein Erinnerungsbuch herausgebracht. Eine lesenswerte subjektive Sicht, die so nahe am Sujet wie nur möglich ist: Waldau verbrachte ihr gesamtes Leben auf und hinter der Bühne des Hauses. Bis zur Insolvenz 2004.

Nach wie vor bemerkenswert erscheint die Bedeutung in den 60ern, als die Produktionen à la Ohnsorg im Fernsehen übertragen wurden. Oder die geniale Marketing-Idee „Ein Dorf geht aus“: Sonderzüge brachten die kompletten Einwohnerschaften fast aller Umland-Gemeinden zur offiziell „Theaterbahnhof“ genannten Waller Bahnstation.

Die Zeit des „Dritten Reichs“ hingegen spielt in Waldaus Buch keine Rolle. Dabei hätte sich die damalige Wertschätzung des Niederdeutschen im allgemein chronologischen Teil durchaus niederschlagen können. Auch etwaige „Arisierungs“-Maßnahmen werden nicht erwähnt. In Bezug auf die jüngere Geschichte ist der Rückblick frei von Rücksichtnahmen: Waldau-Schauspieler Klaus Marth, der die Bühne 2005 ohne jede staatliche Unterstützung weiterführte, bekommt wegen „hanebüchener“ Erfahrungslosigkeit und künstlerisch „katastrophaler Qualität“ ebenso sein Fett weg wie Henning Scherf. „Der hat uns glatt auflaufen lassen“, erinnert sich Waldau an die Bemühungen, vom Bürgermeister wenigstens moralische Unterstützung für die von Arbeitslosigkeit bedrohte Belegschaft zu bekommen. Voraus gingen kriminelle Machenschaften der Geschäftsführung und eine höchst zweifelhafte Selbstbedienungsmentalität des vor allem an seinem Jaguar interessierten Intendanten.

Rundumschläge provozieren den Verdacht, der weitflächige Schattenwurf solle das eigene Wirken umso heller erstrahlen lassen. Doch Waldau verschweigt keineswegs, dass ihre eigenen Bemühungen, der Insolvenz mit zahlreichen Benefizabenden zu entgehen, kläglich scheiterten: „Die Resonanz war erbärmlich.“

Waldau selbst hat eine neue künstlerische Heimat auf dem Theaterschiff gefunden – persönlich ein glückliches Schlusskapitel. Die Geschichte des Theaters hingegen hinterlässt bitteren Nachgeschmack. Schließlich kristallisiert sich aus der mittlerweile historischen Distanz immer klarer das Bild heraus, dass die staatlichen Aufsichtsorgane dem Treiben der Theaterleitung freien Lauf ließen – um das Haus anschließend umso alternativloser abservieren zu können.

Henning Bleyl