berliner szenen Aus den Augenwinkeln

Gaffen vermeiden

Regen mischt sich mit den letzten warmen Luftzügen. Zur Tagesschau ist es nun längst wieder dunkel. Am U-Bahnhof Warschauer Straße, wo ich mit Meike zum Weggehen verabredet bin und noch auf ihr Eintreffen warte, stehen zwei orientale Twens an einer leuchtenden Werbetafel mit Glasfront. Einer hantiert im Hintergrund und der andere ist, verdeckt durch seinen Körper, vor der Scheibe aktiv. Ich beobachte misstrauisch aus den Augenwinkeln, was vor sich geht, denke sehr schnell an Flusssäure und muss aufgeregt schlucken. Im letzten Jahr gab es doch fast jede Woche einen Vorfall wegen eines dieser Ätzgraffiti, Menschen waren akut gefährdet, Bahnhöfe mussten ganztägig geschlossen werden. In letzter Zeit habe ich zwar noch nichts dazu gelesen, aber hey, springt jemand vor einen fahrenden Zug, um aus dem Leben zu scheiden, wird dies aus Sorge vor Nachahmern auch selten kolportiert.

Mein Telefon lässt sich mit zittrigen Fingern schnell in der linken Hosentasche lokalisieren, die Nummer der Polizei geht mir als Schleife durchs Bewusstsein. Ich versuche erkennbares Gaffen zu vermeiden. Andere Leute sind hier, auf dem hinteren Bahnsteigbereich, leider nicht zu sehen. Wo bloß Meike bleibt? Die beiden scheinen den größten Spaß zu haben und werfen sich irgendetwas zu. Was sie sagen, ist unverständlich. Ich will keinen falschen Alarm auslösen. Personalchefs trauen Migranten wenig zu, Polizisten trauen ihnen viel zu. Ein letzter Kontrollgang also!

Vorbei an den Jungs, zur anderen Bahnsteigseite gehend, muss ich erneut schlucken. Die haben nichts anderes gemacht, als die an der beleuchteten Schreibe flatternden Insekten zu fangen und in ein Spinnennetz zu werfen. Autsch! NIELS MÜNZBERG