Genosse Beharrlich und Herr Artig

Warum, verflixt, sind hier keine Wähler auf der Straße? SPD-Senioren, Stadtverordnete und Landtagskandidaten traben missmutig durch das menschenleere Städtchen Elbsdorfergrund. Wahlkampf in Nordhessen, und der Bürger verschanzt sich hinter Fachwerk. Doch da! Auf der anderen Straßenseite! Eine Frau mit Einkaufstasche! Der klein gewachsene Mann Mitte fünfzig hat sie entdeckt. Er spurtet über die Straße, verdankt einem wachsamen Autofahrer, dass er nicht überfahren wird, ein Nelkenkopf aus dem Strauß in seiner Hand knickt um. Dann ist er da und hält ihr eine unversehrte rote Nelke ins verdutzte Gesicht: „Darf ich Ihnen das geben? Ich möchte Ministerpräsident werden!“

Eine Bitte, so hastig vorgetragen wie ihre Dringlichkeit: Am 2. Februar wählt Hessen ein neues Landesparlament; viel Zeit bleibt nicht für Überzeugungsgespräche, wenn man einer ist, dessen Gesicht kaum ein Hesse kennt und dessen Wahlsieg laut Umfragen derzeit ähnlich wahrscheinlich ist wie Frieden im Irak, kurz: wenn man Gerhard Bökel, Spitzenkandidat der SPD in Hessen ist.

Den Herausforderer des Amtsinhabers Roland Koch kümmern die Prognosen nicht. Vorausgesagtes SPD-Wahlergebnis 31 Prozent? Und für die CDU die absolute Mehrheit im Gespräch? Je schlechter es für ihn aussieht, desto ehrgeiziger wirkt Gerhard Bökel. Er marschiert durch Kleinstädte wie Wittelsberg, Stadtallendorf, Waldeck-Frankenberg, als sei er angetreten, jeden Hessen persönlich mit seinen Nelken auf sich aufmerksam zu machen. Fragt man ihn, woher sein Optimismus rühre, antwortet er beleidigt: „Manchmal fühle ich mich unterschätzt.“ Mit seiner Systematik hat er schon andere Schlachten gewonnen. Penetrante Basisnähe als politische Vision zu verkaufen und es damit zum Oppositionsführer im Bundesland zu bringen – man kann sich über Bökels Geschick aufregen oder amüsieren. In jedem Fall sagt es manches über Zustand und Klientel der SPD aus.

Bökel ist keiner, der wartet, bis man ihn entdeckt. Als Unbekannter zog er von Ortsverband zu Ortsverband, selbstbewusst und kontaktfreudig. Keine Vorstöße auf der bundespolitischen Bühne, wie Roland Koch sie liebt, keine Zuspitzungen gegen Parteifreunde. „Es liegt mir nicht, mich einmal im Monat zu Wort zu melden“, sagt er mit Blick auf den Gegner. Schließlich bringt das ja auch persönliche Vorteile: Wer keinen Streit anzettelt, den lässt die Partei erst mal gewähren.

Ganz Südhessen klapperte Bökel 1999 ab, seit sich herumgesprochen hatte, dass Heidemarie Wieczorek-Zeul nach ihrem Aufstieg zu Schröders Entwicklungsministerin den Vorsitz im traditionell linken Bezirk aufgeben würde. Auf ihrer Abschiedspressekonferenz präsentierte Wieczorek-Zeul ihren Wunsch-Nachfolger: Gernot Grumbach, bislang ihr Stellvertreter. Bökel, der in der SPD wegen seiner Grünen-Abneigung nicht als Linker gilt, erzwang eine Kampfabstimmung – und gewann.

Die Nominierung zum Spitzenkandidaten und die Wahl zum Fraktionschef schaffte er nach bewährtem Schema: „Während die in Berlin Gerüchte über mich gestreut haben, bin ich in Hessen über die Dörfer gezogen.“ Den Landesvorsitz überließ Hans Eichel, mittlerweile Bundesfinanzminister, ihm daraufhin freiwillig. „Unser Verhältnis ist sachlich“, übersetzt Bökel das Zerwürfnis in die Diplomatensprache.

Eichel hätte wohl lieber den finanz- und kommunalpolitisch gewieften Offenbacher Oberbürgermeister Gerhard Grandke als Spitzenkandidaten gesehen. Oder irgendwen anders, der geholfen hätte, Bökel zu vermeiden. Denn Bökel umgibt wenig von dem Reformgeist, den die SPD in Berlin so gern mit ihrer Partei verbunden sähe.

Auf dem Weg zum Wahlkampftermin mit Physik-Professoren in der Universitätsstadt Marburg schwärmt er „von den großen Jahren 66, 67, 68“. Damals schrieb er als Jura-Student und freier Mitarbeiter der Frankfurter Rundschau, in Bildung zu investieren sei wichtiger als den Haushalt zu konsolidieren. Es ist, als sei die Zeit dort stehen geblieben, wenn man Bökel heute zuhört. Das Land Hessen verschuldet? „Ich sage nicht, wann mein Haushalt ausgeglichen sein wird“, ruft er in der Uni. Später, im SPD-Wahlkampfbus, sagt der Landtagskandidat Thomas Spies: „Bökel ist vielleicht nicht der politisch Innovativste. Seine Stärke ist seine Glaubwürdigkeit.“

Glaubwürdigkeit. Bökel hat sich deshalb neulich in der Irakfrage mit dem Kanzler angelegt. Behauptet er. Jetzt, im Bus, wiederholt er: „… kann Deutschland im Sicherheitsrat auf gar keinen Fall zustimmen, wenn die Fragestellung Krieg Ja oder Nein heißt …“ Inzwischen kein großer Unterschied zur Kanzlerposition mehr. Das Verhältnis wird auch künftig ungetrübt bleiben. Warum auch nicht? Querschüsse sind aus Hessen auch nach der Wahl nicht zu erwarten. Denn Bökel will ja in jedem Fall weitermachen. Die roten Nelken liegen dicht neben ihm.

Neunzig Fernsehminuten hitzige Debatte um eines der Reizthemen in Deutschland: „Teuro, die Abrechnung“. Am Ende der WDR-Sendung „Hart, aber fair“ entscheiden wie immer die Zuschauer: der „Fairness-Preis“ für besonders anständigen Diskussionsstil und gerechtes Verhalten gegenüber den Mitstreitern geht diesmal, es ist Anfang Januar, an Christian Wulff. Wer die anderen Podiumsteilnehmer waren? Unerheblich. Wulff würde in jeder Gesprächsrunde den Fairness-Preis gewinnen, unabhängig von den Gegnern. Womit zum Wesen des Christian Wulff, der in eineinhalb Wochen mit großer Wahrscheinlichkeit neuer Ministerpräsident von Niedersachsen wird, eigentlich alles gesagt wäre.

Selten hat jemand allein wegen noblen Auftretens Erfolg in der Politik. Wulff hatte Gelegenheit, an dieser Erfahrung zu leiden. Schon zweimal, 1994 und 1998, schickte die CDU ihn bei den niedersächsischen Landtagswahlen ins Rennen, auf dass er die Wähler im traditionell konservativen, aber abtrünnig gewordenen Land zur Vernunft rufe: Eine Landesregierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder konnte aus christdemokratischer Sicht allenfalls ein unschöner Seitensprung nach links sein.

So sicher wähnte sich die Partei, dass sie es 1994 den damals erst 34-jährigen Wulff mit Schröder aufnehmen ließ. Pech für Wulff – zweimal musste der freundliche Herausforderer mit dem adretten Seitenscheitel und den perfekten Manieren einsehen, dass der vergleichsweise prollige Schröder keine vorübergehende Erscheinung war.

Aber diesmal ist alles anders.

Schröder ist mittlerweile Kanzler, und die Unbeliebtheit seiner Politik hilft ausgerechnet dem CDU-Mann, den er in seiner Zeit in Niedersachsen zweimal abbürstete. So kann Wulff zuversichtlich in seinen Wahlkampfbus steigen und sagen: „Wenn es diesmal nicht klappt, dann liegt es wirklich an mir.“ Nach jeder Niederlage hat die Partei Christian Wulff erneut den Rücken gestärkt und ihn mit wichtigen Posten bekleidet: Fraktionschef in Hannover, Landesvorsitzender in Niedersachsen, Bundesvizechef. Was blieb ihr auch? Einen Besseren hat sie nicht für Niedersachsen, und so wenig Wulff zum biedenkopfartigen Landesvater oder zum Typ Koch’scher Terrier taugt, so sehr verkörpert er doch, was die CDU demnächst nötig haben könnte: Vermittlungsgeschick, programmatisches Denken, Kompromissbereitschaft. Für die Zeit nach dem 2. Februar, wenn die CDU im Bundesrat vermutlich über eine satte Mehrheit verfügen wird und beweisen muss, dass es ihr tatsächlich um mehr geht als politische Blockade.

„Mein Leben lang habe ich SPD gewählt“, sagt ein pensionierter Ingenieur bei einer Wahlkampfveranstaltung in Hannover, „nun ist Schluss.“ Jetzt klatscht er erstmals für die CDU. Gerade beschwört Wulff „weniger Staat und mehr Eigenverantwortung“, eine „Flexibilisierung des Arbeits- und Tarifrechts“, ein „besseres Bildungssystem für unsere Kinder und Enkel“ und erkennt, dass im Gesundheitswesen „Prävention das Zeichen der Zeit ist“. Alles irgendwie wahr, alles irgendwie vage, alles irgendwie Wulff.

Wulff kennt seine Schwächen. Aber in der Opposition, findet der Jurist, dürfe er inhaltlich ruhig „etwas allgemein bleiben“. Und dass er nun mal nicht der geborene Alleinunterhalter ist, was soll’s: „Ich kann aus meiner sachlichen Haut nicht raus.“

Wenn man ihm so zusieht, wie er artig das Kompliment einer älteren Dame entgegennimmt – „an Ihrem Äußeren jedenfalls liegt es nicht, wenn der Gabriel doch noch gewinnen sollte!“ – dann fragt man sich, wer ihm je die Adjektive „jung“ und „wild“ verliehen hat. Mit Hessens Ministerpräsident Roland Koch hat Wulff erst recht nichts gemein. Ausländerhetze, Unterschriftenkampagne, Judenstern-Vergleich? Kann Wulff nichts mit anfangen. Und schließlich: ein klares Bekenntnis zur FDP?

Sicher, Wulff hat die Koalitionsaussage gemacht. Schwarz-gelb soll die nächste Regierung von Niedersachsen sein für den Fall, dass die Liberalen die Fünfprozenthürde diesmal nehmen. Alles andere wäre utopisch angesichts der bundespolitischen Gemengelage. Diesmal. Aber auf mittlere Sicht? Christian Wulff ist nicht ideologisch blockiert. Immer wieder fiel sein Name, wenn über schwarz-grüne Bündnisse auf Landesebene spekuliert wurde. Er beantwortet Fragen danach nicht. Im Moment nicht.

In einer Gaststätte in Niendorf-Holtorf meldet sich ein aufgebrachter Berufsfischer zu Wort. Die Kormorane, meckert er, ruinierten ihn noch, alles fischten sie ihm weg. Nicht nur abgeschossen gehörten die Biester, nein, sondern am besten ihre Brutplätze gleich mit vernichtet. Applaus. „Ach“, antwortet Wulff da gelassen, „das kriegen wir schon hin, wenn wir uns mit dem Nabu verständigen.“ Mit dem Naturschutzbund? Der Fischer ist perplex. Wulff lächelt: „Das sind ganz aufgeschlossene Leute.“