„Es gibt auch falsche Regulierung“

Der US-Ökonom Jagdish Bhagwati fordert ein unabhängiges Kontrollsystem der Finanzinstitutionen

Jagdish Bhagwati, 1934 in Bombay geboren, lehrt an der Columbia University in New York, berät UNO und WTO und ist Fellow am Council on Foreign Relations. Er liest in den kommenden Tagen aus seinem jüngsten Buch „Verteidigung der Globalisierung“ (Siedler-Verlag) in Hamburg (1. 10.), Wien (3. 10), Heidelberg (5. 10.), Köln (6. 10.) und Berlin (7. 10.).

INTERVIEW ROBERT MISIK

taz: Herr Bhagwati, George W. Bush hat in dramatischen Worten von einem drohenden „Kollaps“ der US-Wirtschaft gesprochen. Wie ernst ist die Lage?

Jagdish Bhagwati: Wir blicken in ein Fass ohne Boden und wissen nicht, wie weit es nach unten geht. Das Absurde ist: Es begann mit dem Immobiliensystem. Das hat nur wenig mit dem zu tun, was man üblicherweise das „internationale Finanzkapital“ nennt. Die Wurzel liegt bei den amerikanischen Hypotheken-Banken Freddie Mac und Fannie Mae. Die sind ein Produkt der uramerikanischen Philosophie, dass jeder ein Haus für sich besitzen soll. Diese Banken sind sehr staatsnah. Sehr viele Menschen haben sich Häuser gekauft, die sie sich nicht leisten können. Sie haben Hypotheken auf Häusern, die falsch bewertet sind, und riskieren Raten, die sie sich nicht leisten können. Und der Staat hat das subventioniert, so dass wir kaum von deregulierten Finanzmärkten sprechen können.

Eine amerikanische Marotte hat also die ganze Welt in eine Krise gestürzt?

Diese Banken haben neue Finanzierungsinstrumente erfunden, damit sich noch mehr Menschen Geld leihen. Die Banker glaubten, mehr Business bedeute mehr Profit. Und die Risiken konnten sie steigern, weil sie sich auf Staatsgarantien verließen. Die Banken haben sich die Risiken wiederum versichern lassen, und die Versicherungen haben mit diesen Titeln gehandelt. Erst da kommt das internationale Finanzsystem ins Spiel: Man hat diese Titel bis nach Russland und Deutschland verkauft. Das Kreditvolumen blähte sich auf, zugleich war es immer weniger abgesichert.

Und was kommt jetzt?

Man versucht jetzt verzweifelt, die Banken auszukaufen. Letztendlich weiß aber niemand, wie viel Geld man dafür braucht. Ob 700 Milliarden Dollar reichen? Man weiß es nicht. Das System ist in enorm intransparenter Weise gewachsen.

Also liegt es doch an dem deregulierten Finanzsystem?

Eher an der falschen Regulierung. Diese Banken waren mächtig. Sie hatten starke Lobbys. Sie finanzierten die Politiker im Wahlkampf. Und diese Politiker waren dann dafür verantwortlich, sie zu „kontrollieren“. Das gesamte Anreizsystem ist falsch. Wenn ein Kongressabgeordneter viele Kannibalen unter seinen Wählern oder Financiers hat, dann wird er dafür sorgen, dass es jeden Tag einen Missionar zum Frühstück gibt. Wie will man in einem solchen System eine vernünftige Bankenaufsicht etablieren?

Kritiker sagen, das sei erneut ein Exempel dafür, welchen Schaden unregulierte Finanzmärkte anrichten können. Das ist Ihrer Meinung nach nicht ganz richtig?

Man muss die Frage stellen, was Regulierung überhaupt leisten kann. Es gibt auch falsche Regulierung. Finanzinstitutionen entwickeln immer neue, innovative Finanzierungsinstrumente. Niemand weiß genau, was diese Instrumente anrichten können. Wir brauchen ein echt unabhängiges Aufsichtssystem, das die möglichen Schattenseiten und Risiken einer Innovation ständig herausarbeiten muss. Man sollte dazu übergehen, immer vom Schlimmsten auszugehen.

Sie sind einer der eloquentesten Anhänger des freien Handels und der Globalisierung, aber auch ein Kritiker freier Kapitalflüsse. Wie geht das zusammen?

Offene Gütermärkte, offene Märkte für Dienstleistungen haben sehr positive Auswirkungen. Für offene Kapitalmärkte gilt das nicht. Zunächst kann ein Unfall im Finanzsystem zu einem Flächenbrand führen, ein Güterproduzent geht schlimmstenfalls bankrott. Nehmen wir nur den gegenwärtigen Fall: Die Banken glaubten, mit dem weltweiten Handel der Kreditsicherungen werden Risiken verteilt. In Wirklichkeit haben sich die Risiken potenziert. Da im Finanzsystem die potenziellen Gewinne unglaublich hoch sind, ist natürlich auch die Versuchung enorm, extreme Risiken einzugehen.

Sind Sie also nun ein linker Kritiker des Finanzkapitals oder ein wirtschaftsliberaler Freihandelsfan?

Sicher bin ich links von der Mitte. Aber wer für freien Handel ist, der gilt heute schnell als rechts von der Mitte. Das ist Unsinn.

Viele Leute meinen, die Ungleichheit steigt, die Löhne geraten unter Druck. Wie können Sie sagen, dass die Globalisierung ein humanes Gesicht hat?

Im Detail betrachtet stellen wir fest: Wenn sich Gesellschaften in die Weltwirtschaft integrieren, dann bessert sich die Lage der Frauen, auch Kinderarbeit nimmt ab, die Lebensbedingungen der Schwächsten verbessern sich. Ehemals arme Länder haben sich wirtschaftlich entwickelt, in China, in Indien gibt es Wohlstand, einen breiten Mittelstand.

Die einstige Dritte Welt gewinnt, die bisher reiche Welt verliert also?

Stimmt nicht. Natürlich gibt es heute einen wachsenden Druck vor allem auf schlecht qualifizierte Arbeitnehmer der reichen Länder. Aber alle Daten zeigen, dass das sehr wenig mit der Globalisierung zu tun hat, sondern viel mit dem technologischen Wandel. Die Fließbänder, auf denen unqualifizierte Arbeiter einfache Handgriffe machen, gibt es heute in den USA kaum noch. Diese Arbeit ist aber auch nicht nach China „ausgewandert“, sie wurde durch Automatisierung ersetzt. Ohne die wechselseitigen Vorteile und das Wachstum aus der globalen Verflechtung wäre der Druck auf die niedrig Qualifizierten noch stärker.

Warum dann die grassierende Zukunftsangst?

Die Konkurrenz ist einfach härter. So gut kann eine Firma heute gar nicht sein, dass sie nicht aus dem Augenwinkel die Konkurrenz sieht. Kein Bereich ist davon ausgenommen. Diese Konkurrenz führt aber auch zu Wohlstand. Sie beschert technologischen Fortschritt, schafft neue Jobs. Sicher, sie hat auch negative Auswirkungen. Jobs, auch die guten, sind unsicher. Firmen investieren nicht mehr in die Kompetenzen ihrer Mitarbeiter, wenn sich diese Kompetenzen ständig entwerten.

Muss man sich damit abfinden?

Nein. Man muss intelligente Maßnahmen setzen, die die Menschen befähigen, unter diesen Bedingungen zu bestehen. Ein Wohlfahrtsstaat muss sicherstellen, dass die Menschen im Fall der Fälle nicht ins Nichts rutschen. Was aber nichts hilft, ist: Antiglobalisierung. Wir brauchen offene Ökonomien, um all die Vorteile zu haben, die Offenheit nach sich zieht.