Gruppenbild mit Zukunft

Die Kraft des Wünschens mobilisieren Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll in einer Berufsschule in Weißensee. In Videoscreens reden vierzig Schüler über ihre Vision vom schönen Leben

VON ANDREAS RESCH

Bewegt man sich eigentlich schon im Reich des Unausführbaren, wenn man darüber nachdenkt, wie eine Stadt aussehen könnte, die weder ökonomischen noch infrastrukturellen Zwängen unterworfen ist? Wenn man überlegt, was wäre, wenn es keine Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Raum gäbe? Oder welche Funktion Arbeit in einer solchen individualisierten Welt einnehmen würde?

Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigen sich die Berliner Künstler Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll in ihrer Kunst-am-Bau-Installation mit dem schönen Titel „Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen“. Sie ist seit einigen Wochen – und voraussichtlich, sofern die Technik mitspielt, für die nächsten dreißig Jahre – im Neubau der Marcel-Breuer-Schule für Holztechnik, Glastechnik und Design in Weißensee zu sehen. In einem großen, lichtdurchfluteten Raum sind fünf Videoleinwände angebracht, auf denen Jugendliche, allesamt aktuelle oder ehemalige Schüler der Marcel-Breuer-Schule, ihre idealen Lebenswelten entwerfen.

Insgesamt fünf Stunden Material haben die beiden Künstler aus einem riesigen Wust an Bild- und Tonaufnahmen destilliert. Das Spektrum an Lebensweltentwürfen, das sich einem präsentiert, reicht von drolligen Absurditäten – „Mein Traumhaus hätte die Form eines Tigers“ – über megalomanische Molochfantasien – „Georgetown Island hat drei Ringe. Im ersten Ring sind die Anwaltskanzleien“ – bis hin zu ernsthaften sozialkritischen Reflexionen.

So stellt sich eine Schülerin vor, in einem mit Solarzellen ausgestatteten, transparenten Glasbau zu leben. Ein anderes Mädchen wünscht sich eine Stadt, in der die Künstler das Sagen haben und alle Mitbürger in die Umsetzung ihrer Ideen integriert sind – eine Variation der platonischen Gelehrtenrepublik –, während ein drittes ganz einfach von einem generationenübergreifenden Wohnprojekt auf einem Bauernhof träumt.

Traumtänzereien und solide Bodenständiges halten sich in etwa die Waage – und gehen bisweilen überraschend nahtlos in einander über. Jedenfalls gewinnt man, je länger man vor der Installation steht, den Eindruck, dass die heutige Jugend lange nicht so pragmatisch und fantasielos ist, wie ihr das gerne von Angehörigen älterer Jahrgänge vorgeworfen wird.

Damit die vielen Stimmen nicht in eine babylonische Sprachverwirrung ausarten, haben Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll Sensoren an der Decke installiert, die dafür sorgen, dass man immer den Schüler am deutlichsten sprechen hört, vor dessen Screen man sich gerade befindet. Zudem reden nie alle Jugendlichen gleichzeitig, sondern immer nur zwei oder drei, während die anderen herumstehen und mal auf den Betrachter schauen, mal zu ihren Mitschülern hinüberblicken.

Um jene vierzig Schüler zu finden, die letztendlich in der Installation porträtiert worden sind, haben die Künstler ein Casting durchgeführt. „Die Idee des Castings“, erklärt Ralf de Moll in der geräumigen Kreuzberger Atelierwohnung, die er sich mit Christiane Dellbrügge teilt, „ist ein Zeitphänomen. Vor zehn Jahren hätte es möglicherweise nicht so viele Bewerber gegeben.“ 176 waren es insgesamt.

Nachdem eine Auswahl getroffen war – diese sollte ein möglichst breites Spektrum an Charakteren abdecken –, diskutierten die Künstler mit den Schülern und ließen sie „über Optionen nachdenken“, wie es Christiane Dellbrügge formuliert. Es wurde viel improvisiert, allerdings waren diese Improvisationen stets „eingebettet in konkrete Gesprächssituationen“. Tatsächlich wirken die Vorträge der Jugendlichen gleichermaßen authentisch wie inszeniert: als würden sie sich selbst spielen.

Meist werde Kunst am Bau, so Christiane Dellbrügge, „als etwas empfunden, das nichts mit dem Objekt zu tun hat“. In ihrer Installation haben die Künstler bewusst versucht, Werk und Umgebung miteinander verschmelzen zu lassen.

Indem die Berufsschüler über die Stadt der Zukunft nachdenken, reflektieren sie auch das Ziel der Berufe, zu denen sie hier ausgebildet werden. Ihre Visionen sind dem Gebäude eingeschrieben, haben sich in ihm konkretisiert – und wiederum auch nicht. Denn die Diskrepanz zwischen der nach funktionalen Aspekten errichteten Schule und den Träumen der Schüler verweist ja gleichzeitig auf eben jenen Widerspruch zwischen Utopie und Notwendigkeit, von dem die Installation erzählt.

Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll geht es nicht nur um eine organisch-konzeptuelle Einheit von Installation und Ort. Sondern sie verfolgten auch die Idee, ein Dokument zu schaffen, welches auf vielen Ebenen, einer Zeitkapsel gleich, jene Epoche einfängt, in der es entstanden ist und sich somit im Spannungsfeld von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bewegt.

Wie werden die Wünsche der Schüler in einigen Jahrzehnten auf andere Jugendliche wirken? Welche von ihnen werden Realität geworden sein? Und welche als abwegig und absurd wahrgenommen? In dreißig Jahren wissen wir mehr.

„Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen“. Marcel-Breuer-Schule für Holztechnik, Glastechnik und Design, Gustav-Adolf-Straße 66 in Weißensee