Kultur von unten: Alles ist gut!

Am letzten Wochenende der Van Gogh-Ausstellung haben die Besucher die Chance, das reine, paradiesische „Jetzt“ zu erleben

Schon wieder Zeitung lesen. Und das nicht aus freien Stücken, sondern aus Not. Seit eineinhalb Stunden, noch mindestens eineinhalb Stunden lang. Immer noch besser, als auf den Ausstellungs-Flyer zu starren und die Raumaufteilung auswendig zu lernen. Pro Zeitungsseite ein Schritt nach vorne. Stillstand, der vor sich hintröpfelt.

Dabei müsste doch alles in Ordnung sein: Ein Zeit-Problem kann‘s nur geben mit dem, was ist. Und die letzten eineinhalb Stunden sind nicht mehr. Die nächsten eineinhalb Stunden sind noch nicht – wovor sich also fürchten? Es gibt nur das Jetzt. Und das ist immer wieder sofort vorbei, fließt hinüber in die Vergangenheit, suhlt sich dort bis zum Vergessen.

Nebenan sind sie vom Jetzt so genervt, dass sie anfangen zu stricken. Stricken oder knutschen. Völlig immun gegen den souveränen Gedanken: Das mit dem lausigen Jetzt ist hier und heute, 300 Meter vor dem Eingang, halb so schlimm. Es fängt an zu regnen, und die Leute tauschen bitter Informationen über den Wetterbericht aus. Für den lausigen, einzig rettenden Gegenwartspunkt des Jetzt wird es eng: Kein Mensch kümmert sich mehr um ihn. Alle spekulieren in die Zukunft, wie lange der Regen dauern würde. Erzählen, wie sie vor Jahren beim Papst in Rom noch länger im Regen gestanden hätten. Strengen ihren Geist an und kratzen an der Idee, die Gegenwart wäre ein Zeitpunkt, unendlich klein, unendlich teilbar, unendlich flüchtig, unendlich nichtig.

Schön wär‘s, es würde hier jemand singen. Eine Melodie, möglichst eine kurze, bei der sich die Erwartung auf die Zeitspanne von einem Ton bis zum nächsten beschränkt. Damit die destruktiv monströse Erwartung auf Einlass in die Ausstellung aus dem Gegenwarts-Zeitpunkt verschwindet. Wenn es schon ein Zeithof um das Jetzt geben muss, dann einen möglichst kleinen.

Zumal die in der Kunsthalle bei Regen weniger Leute reinlassen als bei Trockenheit. Wegen der Verdunstung, sagen sie. Die dampfenden Mäntel an der Garderobe würden die Luftfeuchtigkeit im Ausstellungsraum so hoch treiben, dass Van Gogh leidet. Letztlich ist die Klimaanlage schuld, weil zu schwach.

Schon fies: Das mit der Klimaanlage erzählten sie letzte Woche, die Geschichte gehört zu einem Zeitpunkt, der längst vorbei ist. Jetzt, im Augenblick, versaut diese Geschichte die alleinige Existenz der Gegenwart, weil sie eine Geschichte der Zukunft ist: Groß der Wunsch, endlich da anzukommen, wo die Mäntel trocknen. Das reine, unschuldige, paradiesische Jetzt ist vollgepfropft mit Vergangenheit und Gegenwart. Immerhin ist es egal geworden, wie spät es gerade ist.

Das ist bestens, der Grundstein ist gelegt für ein glückliches weiteres Leben: Jede Erinnerung an diese Schlange wird eine Vergegenwärtigung vergangener Gegenwart sein. Und wenn diese Gegenwart jetzt, in dieser Schlange, nicht mehr in Stunden und Minuten bewusst ist, gibt es gute Chancen auf ein absolutes Vergessen der Angelegenheit. „Alles wird gut“, tröstet die Oma nebenan ihren Enkel. Das stimmt nicht. Warten auf Van Gogh, richtig gemacht, heißt: Alles ist gut. Klaus Irler