Die Welt komplett auf den Kopf gestellt

Nach seinem Viersatz-Sieg über den US-Amerikaner Andy Roddick und dem überraschenden Einzug ins Finale der Australian Open gegen den großen Favoriten Andre Agassi liegt Rainer Schüttler am Boden und ist doch ganz obenauf

MELBOURNE dpa ■ Das sind Momente, deren Wert an keiner Börse notiert wird, die sich nicht in Gold aufwiegen lassen, die einem allein gehören und immer gehören werden. Als er ausgestreckt auf dem Platz lag nach seinem Sieg gegen Andy Roddick, als feststand, dass er das große Finale gegen Andre Agassi erreicht hatte, war Rainer Schüttler nah am Boden und an der Realität, aber zur gleichen Zeit war er weiter davon entfernt als je zuvor. Als er ein paar Sekunden später aufstand, hatte ihn die Wirklichkeit wieder. „Innerhalb von zwei Wochen hab ich die Welt ein bisschen auf den Kopf gestellt“, sagte er versonnen lächelnd, und wenn diese Welt auch nur aus einem Rechteck mit weißen Linien besteht, so hatte er völlig Recht.

Natürlich ist er nervös gewesen vor diesem Spiel – und verlor das erste Aufschlagspiel. Doch nach ein paar Minuten hatte er sich im Griff. Und während der restlichen gut zwei Stunden sah es so aus, als mache alles Sinn, was er tut. Mit Ausnahme des zweiten Satzes, in dem seine Konzentration vorübergehend nachließ, sah es oft so aus, als spiele auf der einen Seite der Lehrer, auf der anderen ein ungestümer Schüler, der ein paar unglaubliche Knaller losließ, dabei aber auch oft genug übers Ziel hinaus schoss.

Andy Roddick ist erst 20, er neigt zu solchen Aktionen, aber vielleicht hatte seine Ungeduld auch damit zu tun, dass er mit Schmerzen spielte. Am Tag vor dem Spiel hatte der Arzt eine Sehnenentzündung im rechten Handgelenk festgestellt – Folge der intensiven Belastungen aus den beiden Fünfsatz-Spielen in den Runden zuvor – und Roddick sagte hinterher, wäre es nicht um das erste Grand-Slam-Halbfinale seiner Karriere gegangen, dann hätte er vielleicht nicht gespielt. Als Schüttler zu dem Thema befragt wurde, meinte er nur: „Wenn einer mit 215 km/h aufschlagen kann, dann weiß ich nicht, ob das Handgelenk wirklich so weh tut.“

Nur Roddick hat eine Ahnung, wo die Wahrheit liegt, aber es war offensichtlich, dass er vor allem verzweifelte, weil jeder noch so hart geschlagene Ball von der anderen Seite zurückkam. Am Ende war es eine eindeutige Angelegenheit. Mit einem Rückhandschuss die Linie entlang vollendete Schüttler das Werk zum 7:5, 2:6, 6:3, 6:3. „Das war seine größte Leistung heute“, lobte Davis-Cup-Kapitän Patrick Kühnen hinterher, „wie er in diesem Moment seine Psyche im Griff hatte. Wenn man sich daran erinnert, dass er vor ein paar Jahren gerade im Davis Cup mit dem Psychodruck nicht klar gekommen ist, dann ist das wirklich ein Riesenschritt.“

Nun steht also jener Mann, der vor ein paar Tagen noch mit der Frage konfrontiert wurde: Wer, zum Teufel ist Rainer Schüttler? tatsächlich im Finale der Australian Open, und wer das vor zwei Wochen vorausgesagt hätte … Doch das ist es ja nicht allein. Schließlich ist Schüttler nach Boris Becker und Michael Stich nun der dritte deutsche Spieler, der in der Zeit des Profitennis ein Grand-Slam-Finale erreicht hat.

Was man vielleicht von Tommy Haas oder Nicolas Kiefer erwartet hat, das hat er in aller Ruhe geschafft. Dass er am Montag, wenn die neue Weltrangliste erscheint, auch der beste Deutsche sein und Haas überholt haben wird, ist ein weiterer Beweis dafür, wie sich die Dinge entwickelt haben. Aber was sagt Schüttler dazu? „Ob ich die Nummer eins oder drei in Deutschland bin, interessiert mich nicht. Ich hätte gern noch fünf Deutsche vor mir in der Weltrangliste, denn dann wären wir die beste Mannschaft der Welt.“

Apropos Mannschaft. Die Kunde des Erfolgs von Rainer Schüttler wird sich in Windeseile herumsprechen bis nach Buenos Aires. Vor einer Woche hatten sich die Argentinier noch beklagt, die Spieler jenes Teams, das Anfang Februar zum Davis Cup erwartet wird, kenne ja keiner. Ein bisschen hat sich das geändert. Weil ein ganz bestimmter Spieler alles getan hat, was man tun muss, wenn man ein Ziel hat. Und wenn man von jenem Moment träumt, in dem man am Boden liegt und obenauf ist. DORIS HENKEL