Gebannte Blicke im Gegenuhrzeigersinn

Mehr als 10.000 Glückliche allabendlich können nicht irren. Das Sechstagerennen ist wie 999 Karat Gold

Im Velodrom an der Landsberger Allee wird sechs Tage lang Glück gegeben. Es wird gegeben in der reinsten aller Formen. Wie 999 Karat Gold. Sobald der schale Eingang aus Beton überwunden ist, springt es die Besucher des Sechstagerennens an. Zuerst noch als Esso-Tiger oder Schultheiss-Traumtänzer. Auch als Unruhe, die jeder vor etwas Großem spürt.

Dann aber, wenn alle Hürden überwunden sind, wenn der Parcours der Flaneure, der hinter den Zugängen zur Arena liegt, überwunden ist, erreichen die Zuschauer den Ort, wo es das gibt, was Entzücken, Freude oder Seligkeit genannt werden kann. Pur, unverfälscht, echt. Die Zuschauerinnen übrigens sind nicht ausgeschlossen. Denn was schön ist, was wie eine Liebesnacht ohne Untreue ist, wird gerne mit der Ehefrau geteilt.

Zu sehen ist genau genommen nicht viel. Eine ovale Bahn, 250 Meter lang, die sich wie ein gedrehtes Band vor dem Auge auftut. Von allen Seiten einsehbar, von allen Seiten eingesehen. 36 Gladiatoren mit ihrer Waffen, den Rädern, beherrschen sie. Sie fahren sie entlang. Im Gegenuhrzeigersinn. Immer im Gegenuhrzeigersinn. Den Rennfahrern, den Helden, geht es ums Erstersein. Das will das Publikum miterleben. Wenn die Beine der Wettkämpfer fliegen, wenn sie sich gegenseitig antreiben, sich unterstützen, sich behindern je nach Kalkül, wenn sich ihre Rücken wie bei Katzen krümmen, um noch mehr Kraft in die Waden zu stemmen, wenn sie durch schieren Willen den Eindruck vermitteln, dass sie noch schneller sein wollen als schnell, wenn sie Ziellinien erreichen und Erster waren, gesiegt haben, Champion sind, die Ehrenrunde fahren, die Blumen in die Ränge werfen, dann stellt sich beim Publikum eine Transformation im Fühlen ein: weg vom Alltag hin zum Augenblick. Und ungelogen: Es gelingt. Durch bloßes Hingucken kommt dabei Glück auf. Mehr als 10.000 Glückliche allabendlich können nicht irren. Das Bier tut ein Übrigens.

Auf den Rängen sitzt die Menge, die sich an der Schnelligkeit der Fahrer berauscht. Serontonin-Seligkeit. Weil es viele Wettkämpfe gibt an einem Abend, viele Sieger, egal welcher Nationalität, holt sich jeder die Dosis, die er braucht. Die Freude der Fahrer wird zur Freude der Zuschauer. „Ich war dabei“, sagt einer – ein anderer: „Ich auch“.

Der Blick folgt dem „Feld“, den „Ausreißern“, dem „Pulk“. Die eigene Kopfbewegung reiht sich ein in die der anderen. Wer es noch nicht begriffen hat: Schon in diesem Moment ist die Kontrolle über den eigenen Willen verloren. Von da ist der Weg nicht weit zum Aufspringen, wenn es die anderen es tun. Zum Die-Hände-in-die-Luft-Werfen, wenn es die anderen tun. Zum dreimaligen Pfiff, wenn die anderen pfeifen. Zum Klatschen, wenn die andern klatschen. Zum Johlen, wenn die anderen johlen. Zum Ratschen drehen, wenn die anderen es tun. Zum Atemanhalten, wenn andere ihn anhalten. Zum Aufschreien vor Glück, wenn andere aufschreien. „Stand up for the champion.“ Der Lärm ist ohrenbetäubend, wenn einer gesiegt hat, wenn die Spannung sich entlädt.

„Die Psychologie hat keine Erklärung für solche Massenphänomene“, sagt eine Westdeutsche, die Feldforschung betreibt an sich selbst. Sie ist hochgesprungen, als einer den Rundenrekord schaffte. Dass es Jens Fiedler war, sagt ihr nichts. Der Frau aus Sachsen schon. „Es hat was von Gehirnwäsche, aber was soll’s“, sagt sie. Sie habe schon Karten für nächstes Jahr. „Zu DDR-Zeiten war kein Reinkommen.“ Das Rennen ist Lebenselexier für Ex-Ostler. Früher Winterbahnrennen, heute Sechstage. Sie hauchen dem alten Spektakel neues Leben ein. Was spricht dagegen, wenn sich am Ende Menschen, die nicht aussehen, als wäre Freude ihr täglich Brot, in die Augen schauen, sich umarmen, zulächeln oder ihr Handy herauskramen und gucken, ob eine SMS angekommen ist. „Ich liebe dich.“ Unterzeichnet von Smilie. WALTRAUD SCHWAB